2. Wie alles anfing

 

 

Diese Geschichte gibt es auch als Audio-Datei, falls ihr lieber hört, als lest: 2. Wie alles anfing.

 

 

Miau und hallo, meine zauberhaften Leser*innen,

 

los geht es mit der ersten richtigen Geschichte.

 

Also, es war Mitte/Ende der 1990er Jahre und ich war verletzt, so verletzt, dass die magische Energie anfing, aus mir herauszulaufen. Ich würde ja nur allzu gern behaupten, dass dies bei einem großen, dramatischen Kampf für den Weltfrieden oder so passiert war. Aber, tja, dem war nicht so. Es war schlicht und ergreifend ein Unfall, ein sehr peinlicher noch dazu.

 

Mein letzter Auftrag für den Rat der Magischen Tiere war gerade abgeschlossen, ich hatte ein paar Tage frei und genoss den Herbst in Brandenburg. Kleines Wäldchen am See, mit einer Bank, die mittags Sonne hatte, und vielen Snacks, also Mäusen im Gebüsch. Die ersten Ferien seit langem. Ich war so entspannt, dass ich wagemutig wurde und beschloss, den Sonnenuntergang über dem See von einem Baum aus zu betrachten. Der Ausblick war grandios, sag ich euch. Mein Abstieg war es eher weniger. Schon beim ersten Sprung nach unten verfehlte ich die nächste Astgabel und stürzte mit Karacho in die Tiefe.

 

Als Katze?, höre ich euch ungläubig fragen. Jaha. Als Katze. Als Zauberkater. Ich habe ein Handicap, das muss aber wirklich hier unter uns bleiben, bitte! Ich kann weder richtig klettern noch springen noch landen. Das ist schon für eine normale Katze peinlich, aber für einen Zauberkater ist es eine Katastrophe, sag ich euch, zumindest in der Magischen Welt.

 

Also, ich landete sehr unsanft am schlammigen Ufer des Sees. Auf der Seite. Natürlich hatte ich das mit dem Drehen wieder mal vergeigt. Allein meinen magischen Kräften ist es zu verdanken, dass ich überhaupt überlebte. Leider war ich mit dem linken Bein auf einem echt fies spitzen Stein gelandet – und hatte dort eine große Wunde. Eine sehr merkwürdige noch dazu.

 

Eigentlich hätte ich die Wunde nämlich selbst heilen können müssen. Zauberkatzen brauchen in der Regel keine Tierärzt:innen, auch wenn uns die Menschen hin und wieder doch zu diesen Quacksalber*innen bzw. Pieksetanten, wie es auf Social Media immer heißt, schleppen.

 

Eigentlich. Es funktionierte nicht, so sehr ich es die Nacht über auch versuchte. Statt gesünder und stärker wurde ich langsam schwächer.

 

Als der Morgen dämmerte, war mir klar, dass ich Hilfe brauchte. Nein, das war keine normale Wunde. Das war eindeutig eine magische Verletzung.

Wo zum Feenstaub war ich raufgestürzt?

Dieser spitze Stein … was war das für einer gewesen?

 

Ihr müsst wissen, dass es in der magischen Welt nicht nur gute magische Tiere gibt. Einige von uns sind - ich sag mal - alles andere als freundlich. Mit den Gegenständen, die sie mit ihrer miesen magischen Energie – kurz MME – tränken, gehen sie nicht immer so sorgfältig um, wie es geboten wäre. Kurz: Die Mistdinger landen schon mal irgendwo in der Gegend. Magische Umweltverschmutzung sozusagen. Nein, unsere Welt ist nicht in allem besser. Leider.

 

Ich war mir sicher, dass der Stein mit MME verseucht war, anders war nicht zu erklären, dass ich nicht schon längst wieder auf meinen vier Pfoten stand. Während ich mich also zentimeterweise von dem DING wegrobbte, laufen ging echt nicht, hörte ich lautes Bellen – und zwar gar nicht so weit weg. Klar, das, was ich jetzt unbedingt noch brauchte, war ein HUND. Orrr. Das Bellen kam näher und näher. Mittlerweile war auch eine kratzige Stimme zu hören. Eine Frauenstimme.

 

„Aus, Tasso. Aus. Bei Fuß. TASSO.“ In Endlosschleife.

 

Oh, nee. Kurz schloss ich die Augen. Von dem Gebüsch, in das ich mich hatte verkriechen wollen, war ich noch viel zu weit entfernt, das würde ich nicht schaffen, bevor mich Tasso … AAAH. Zu spät.

 

Ich spürte, wie eine unangenehm feuchte Nase an mir zu schnuppern begann. Vorsichtig öffnete ich ein Auge und erblickte meinen personifizierten Albtraum: ein nicht-magischer deutscher Schäferhund. Der Tasso hieß. Ging eigentlich noch mehr Klischee? Er beschnüffelte mich von vorne bis hinten, wuffte und winselte dabei und schlabberte mir dann noch über den Kopf. Mir war doch eh schon übel.

 

Mittlerweile hatte uns auch seine Besitzerin erreicht und befahl Tasso ein weiteres Mal: AUS! Gefolgt von SITZ. Tasso gehorchte endlich. Wieder öffnete ich vorsichtig ein Auge. Statt Tasso hockte jetzt eine Frau neben mir und säuselte unverständliches Zeugs. Dass die Menschen mit Tieren nie ganz normal sprechen. Meine Güte.

 

Die Frau, ungefähr in den 30ern, hatte wallendes langes Haar. Rot. Eindeutig mit Henna gefärbt. Batikklamotten. Das nächste Klischee an diesem Morgen. Als wäre meine Lage nicht schon schlimm genug.

 

„Ach, du armes Kleines Ding“, vernahm ich und wurde hochgehoben. Zum Glück sehr vorsichtig. „Du bist ja wirklich schlimm verletzt und noch dazu ein sooo süßes Baby.“

 

Nun auf Social Media wäre das der Moment, in dem jemensch ein WHAT?-GIF posten würde.

 

Erschrocken versuchte ich, die Ausmaße meines Körpers zu spüren und einen Blick auf meine Vorderpfoten zu werfen. Große Katze im Himmel. Sie hatte recht. Über Nacht war ich wieder zu einem Katzenbaby geworden. Die Lage war noch ernster, als ich gedacht hatte. Ich spürte noch, wie sie mich in ein Tuch wickelte, dann verlor ich praktischerweise das Bewusstsein.

 

Als ich wieder zu mir kam, erblickte ich als allererstes – nun, ratet – Tasso. Er schlief neben dem Körbchen, in dem ich lag. Um mein verletztes Bein war ein fester Verband gewickel, der entsetzlich stank. Bevor ich mich umschauen konnte, erwachte Tasso und begann eifrig mit dem Schwanz zu wedeln, als er bemerkte, dass ich wach war. Hunde. Freuen sich über alles. Keine Contenance. Aber er war mir ja ganz offensichtlich freundlich gesinnt und das wollte ich nicht aufs Spiel setzen.

 

Mir wird nämlich nachgesagt, dass ich manchmal recht arrogant sei. Ich weiß ja nicht. Zu meinen Fähigkeiten jedenfalls gehört es, dass ich in der Lage bin, mit allen magischen und nicht-magischen Lebewesen sprechen zu können.

 

Ich fühlte mich zumindest ein wenig besser. Vielleicht war ja auch ein Teil meiner magischen Kraft zurückgekehrt?

 

Zaghaft richtete ich das Wort an Tasso. Nun, also entweder sprach ich wirklich zu leise oder der Kerl war einfach aufdringlich. Jedenfalls schob er seine Schnauze samt feuchter Nase quasi in mein Gesicht. Sein Atem war noch schlimmer als der Geruch des Verbandes. Mir wurde so übel, dass ich im ersten Moment gar nicht begriff, dass er mich verstanden haben musste. In dieser Situation war zwar wenig gut, aber zumindest schien diese Fähigkeit, wenn auch schwach, zurückgekehrt zu sein. Das war gut, eindeutig.

 

Tasso begann sofort damit, mir in einem hölzernen, sehr langen Monolog zu erklären, wo ich hier gelandet war. Sprachliche Eleganz ist wirklich nicht seins. Schäferhund eben.

 

Ich schluckte eine ironische Bemerkung herunter, kater sollte einem Verbündeten niemals auf die Füße, äh, Pfoten treten, schon gar nicht, wenn er offensichtlich momentan der einzige ist. Die Quintessenz seiner umständlichen Ausführungen war:

 

Ich war bei einer Frau gelandet, die im Katzenschutz arbeitete. Was machte er dann hier? Egal.

 

Ich schaffte es endlich, mich ein wenig umzusehen. In der Tat. Der Raum war voll mit schlafenden Katzen in allen Größen und Farben. Mehr als ein kurzer Blick in die Runde war nicht drin. Mir wurde schwindelig und ich wusste echt nicht, ob das an meinem Zustand oder dem Gestank des Verbandes lag.

 

Tasso hatte derweil nicht aufgehört zu sprechen. Und mich nennt man eine Plaudertasche. Pah. 

 

„ … hat auch ein wenig Erfahrung mit der Versorgung magischer Tiere …“ schnappte ich nun auf.

 

Moment? What? Tasso, aufmerksamer als zu vermuten gewesen wäre, erklärte von Neuem:  

Ich sei nicht das erste magische Tier, das hier aufschlug. Und der Verband, so teilte er mir mit, würde so lecker riechen, weil darunter eine Paste aus Heilkräutern aufgetragen sei.

 

Lecker? Das Zeug roch wie … Lassen wir das. Reicht ja, wenn mir damals speiübel war. Muss euch ja nicht genauso ergehen.

 

Zusammengefasst war ich in einer Art Katzenauffangstation und -vermittlung gelandet. Woher diese Hippie-Dame gewusst hatte, dass ich magisch bin, hat mir Tasso entweder nicht verraten oder ich habe den Teil schlicht verpennt. Ich schlief viel in den zwei oder drei Wochen an diesem Ort. Ob es an meinen Zustand lag oder an Tassos einschläfernder Art zu sprechen, lassen wir mal offen.

 

Ich wurde immer mal wieder wach, wenn Menschen den Raum betraten, wohl um eine Katze oder einen Kater zu adoptieren. Jedes Mal schob sich Tasso ganz dicht an mich ran, verdeckte mich mit seinem riesigen Körper und ließ nicht zu, dass sich mir jemensch näherte. Bis dann eines Tages, ich fühlte mich schon wieder etwas kräftiger und das Bein schmerzte weniger, eine junge Frau den Raum betrat. Sie hatte etwas, was mich sofort den Kopf heben ließ.

 

Und so beobachtete ich neugierig, wie sich die Frau zu einer silbergrauen jungen Katze auf den Boden kniete. Eine der nettesten Mitbewohner:innen hier, soweit ich das mitbekommen hatte. Ich fand es gleich sehr sympathisch, dass sie ganz normal mit der Silbergrauen sprach, nicht in dieser gruseligen, süßlichen Babystimme. Instinktiv entfuhr mir ein ganz leises "Miau."

 

Die Frau blickte zu mir herüber – und dann passierte etwas, was ich zunächst überhaupt nicht einordnen konnte:

 

Kaum merklich veränderten sich Mimik, Gestik und Körperhaltung. Die meisten hätten es überhaupt nicht bemerkt, doch sie wirkte plötzlich deutlich jünger. Sie rutschte zu mir herüber und streckte etwas ungelenk die Hand in meine Richtung. Ich zögerte – und tat etwas, was ich eigentlich nicht durfte. Bzw. nur in Notfällen – und ob der Rat der Magischen Tiere dies als Notfall auslegen würde, war mehr als ungewiss. Ich hatte längst bemerkt, dass durch dieses stinkende Kräuterzeugs ein Teil meiner magischen Kräfte zumindest in Ansätzen zurückkehrte. Eine weitere meiner Fähigkeiten ist, Gedanken anderer zu hören. Eine sehr problematische Fähigkeit, die viele magische Wesen besitzen. Wir Tiere aus dem Zauberwald haben uns allerdings verpflichtet, diese Fähigkeit nur einzusetzen, wenn unser Leben bedroht ist. Und in einer sehr weiten Auslegung der Regel, traf das ja zu. Irgendwie. Miau.

 

Also testete ich, ob mein magisches Gehör schon wieder funktionierte.

‚Anna, bitte, den!‘, hörte ich. Eine Kinderstimme.

Und dann eine erwachsene Frauenstimme, alles im Kopf der Frau: ‚Aber der ist verletzt. Und die Graue mag uns jetzt schon.‘

 

Im ersten Moment zweifelte ich daran, dass meine magischen Sinne so funktionierten, wie sie sollten, denn ich vernahm noch mehr Stimmen. Dann dämmerte es mir dunkel.

 

Das, was ich da vorhin kurz gesehen hatte, war ein sog. Switch einer Person mit einer dissoziativen Identitätsstruktur, kurz DIS, gewesen. Eine DIS entsteht als Folge schwerer Traumata in frühester Kindheit und entgegen der in Filmen und Büchern gestreuten Mythen ist ein Switch, also der Wechsel zwischen Innenpersonen, in vielen Fällen kaum zu bemerken.

 

Es musste demnach ein Innenkind gewesen sein, das mich entdeckt hatte und nun versuchte, die anderen zu überzeugen, mich zu adoptieren. Das waren die Stimmen, die ich hörte: die der anderen Anteile.

 

Ich war sehr berührt, muss ich gestehen. Und es fühlte sich so an, als würde ich genau dort sehr, sehr gebraucht. Also wandte ich an, was alle Katzen können, egal ob magisch oder nicht: Ich fuhr die Niedlichkeitsmasche. Dass ich immer noch in dem Körper eines Katzenbabys steckte, erwies sich dabei natürlich als enorm hilfreich. Ich kletterte vorsichtig auf den Schoß der Frau, schmiegte mich an sie und begann zu schnurren. Kurz: Ich zog alle Register. Aus all dem Stimmengewirr in Annas Kopf hörte ich dann endlich das erlösende "Okay!".

 

Der Großen Katze im Himmel sei Dank! Ich hatte also schneller als erwartet den Menschen gefunden, der mir mein neues Zuhause geben würde – und vermutlich auch eine neue Aufgabe, denn die brauchen magische Tiere; deswegen gibt es uns.

 

Das war es für heute, ihr Zauberhaften. Wenn ihr mögt, könnt ihr mir gern hier oder auf meinen Social Media Accounts einen Kommentar hinterlassen. Wir lesen uns. Bis bald. 

 

Es grüßt euch herzlich euer Merlin.

 

Kommentare: 3
  • #3

    Hartmut (Montag, 19 August 2024 18:58)

    Merlin, das war eine zauberhafte Geschichte, die wiederum sehr viel Wahrheit in sich hat. Danke dafür, dass du das geschrieben hast. Und danke an die andern. Aber auch mich würde interessieren was mit der silbergrauen Katze geworden ist.

  • #2

    Varni (Samstag, 29 Juli 2023 16:38)

    So langsam alles noch mal lesen bis die neusten Einträge erreicht sind.
    Dafür ist die Sommerpause ideal.
    Kraulis für Merlin �

  • #1

    @energiepirat (Donnerstag, 20 April 2023 20:41)

    Tja, lieber Merlin. wenn man befürchtet, man sei auf den Hund gekommen, dann tritt plötzlich das Gegenteil des erwarteten ein. Das war dann wohl ein echter Glücksgriff für Euch alle. Was wurde aus der grauen Katze?