Heimweh (Traum 1)

Miau und hallo, ihr Zauberhaften,

 

die folgende Geschichte basiert auf einem sehr skurrilen Traum, den Anna&Co vor etwa zwölf Jahren hatten, als sie sich nach einem Unfall wegen einer Fußverletzung im Krankenhaus befanden.

 

Leider war der Unfall in einer Zeit passiert, in der ich mich ausnahmsweise nicht bei Anna, sondern im Zauberwald aufhielt. Ganz ungünstig, ja. Aber hin und wieder müssen alle magischen Tiere, die bei Menschen leben, für einige Wochen dorthin zurück, um ihren magischen Akku aufzuladen. Leben wir zu lange außerhalb unserer Heimat, werden unsere Kräfte mit der Zeit schwächer. Damals war ich magisch ziemlich ausgepowert, sodass es ein längerer Aufenthalt wurde. Ihr kennt das, denke ich. Je länger eins Pausen und Auftanken hinauszögert, weil es angeblich viel zu viel zu tun gibt, umso länger braucht es dann, wieder zu Kräften zu kommen.

 

Jedenfalls wusste ich daher nichts von der Fußverletzung und dem Krankenhausaufenthalt, bis zu der Nacht, in der ich endlich aus dem Zauberwald zurückgekehrte und erst einmal fassungslos in der leeren Wohnung stand.

 

Von Anna&Co keine Spur – es gab lediglich eine kurze Notiz von Anna an mich auf einem Zettel auf dem Küchentisch: „Sind im Krankenhaus.“

 

Große Katze im Himmel, was war passiert? Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie erschrocken ich war. Doch noch während ich in der Küche hockte und überlegte, was ich jetzt machen sollte, passierte es:

 

Ich vernahm Lias Stimme: „Hilf mir, Merlin.“

 

Sehr leise, sehr weit weg – und so dumpf, wie es sich anhört, wenn eins aus der Dimension der Träume um Hilfe ruft. Oha! Das klang gar nicht gut! Ohne weiter nachzudenken, katapultierte ich mich mit einem Sprung in die Dimension der Träume – und landete auf einem Fensterbrett eines Krankenhauszimmers, mitten in dem Traum von Anna&Co. (Jupp, das Betreten von Träumen von Menschen oder Anteilen ist eine weitere, sehr coole Fähigkeit, über die ich verfüge. Funktioniert allerdings nur, wenn im Traum nach mir gerufen wird.)

 

Also, ich hatte den Sprung in die Dimension der Träume zum Glück genau richtig berechnet, denn Lia stand direkt an dem Fenster, vor dem ich landete, und fing vor Erleichterung an zu weinen, als sie mich sah: „Merlin! Gott sei Dank!“

 

Sie vergrub das Gesicht in meinem Fell. Ich ließ ihr Zeit und nutzte den Moment, mich selbst erst mal wieder an die seltsame Tatsache zu gewöhnen, dass in den Träumen von Anna & Co die Innenpersonen eine eigene Gestalt, einen eigenen Körper haben. Kommen die Kleinen in der realen Welt nach vorn, haben sie natürlich noch immer einen erwachsenen Körper. Nicht so in den Träumen, hier war Lia auch körperlich ein etwa 7-jähriges Mädchen. (Keine Ahnung, ob das bei allen Menschen mit DIS so ist.) Schließlich löste ich mich aus Lias Umarmung und warf einen Blick in den Raum:

 

Auf dem Bett saß ein kleiner Stoffbär, der mich leicht panisch ansah.

 

„Holst du mich erst mal rein?“

Lia nickte und setzte mich neben den Bären. „Das ist Teddy. Den hat uns eine Ärztin geliehen, weil es hier so schlimm ist.“

 

Obwohl ich freundlich „Hallo“ sagte, wich Teddy misstrauisch zurück, ein Problem, das ich hin und wieder mit Stofftieren habe. Es existieren zu viele Geschichten darüber, was passiert, wenn Katzen bzw. ihre Krallen eine Begegnung mit einem Stofftier haben. Zugegeben, Plüschpelz ist in solchen Fällen nicht wirklich ein stabiler Schutz. Das kann böse enden. Aber Teddy entschloss sich nach kurzem Zögern, mir eine Chance zu geben, vielleicht aufgrund der Tatsache, dass die meisten Katzen, die so etwas tun, nicht sprechen können.

 

Er würgte ein „Ha – hallo“ heraus. Ich versicherte ihm, dass von mir keine Gefahr ausging und wandte mich an Lia: „Was ist los?“ Sie hatte mit Sicherheit nicht in ihrem Traum nach mir gerufen, um mir Teddy vorzustellen. 

Ein hellbrauner Teddybär winkt mit einer Pfote hinter einer Holzwand hervor. Auch sein Kopf ist zu sehen. Er hat schwarze Knopfaugen und eine schwarze Nase.

Darf ich vorstellen? Das ist Teddy!

Lia und Teddy begannen also gemeinsam zu erzählen, was sich bisher in Lias Traum zugetragen hatte, allerdings so aufgeregt und durcheinander, dass ich kein Wort verstand.

 

„Stopp“, unterbrach ich die zwei. „Zeig es mir einfach, Lia.“

 

Sie verstand sofort, was ich meinte. Mit Menschen oder Anteilen, zu denen ich eine besonders tiefe Verbindung habe, kann ich auf eine ganz spezielle Art kommunizieren. Dazu braucht es nur ein bisschen Magie – und schon kann ich Erlebnisse oder eben auch Träume der Person oder des Anteils wie einen Film ansehen, inklusive aller Gefühle und Gedanken. Das funktioniert nur einvernehmlich. Lia atmete also kurz durch und fing an, mir zu übermitteln, was bisher in dem Traum passiert war:

 

Er begann damit, dass Lia wie wild und offenbar unter Schmerzen humpelnd das gesamte Zimmer jede Ecke, jede Tasche durchsuchte und dabei ein ordentliches Chaos produzierte. Ich spürte geradezu körperlich, was in ihr vorging, während die Bilder vor meinem inneren Auge vorbeizogen; sie hielt es kaum aus in diesem Krankenhaus – und nun noch das! Teddy, an den sie sich jede Nacht zum Einschlafen geklammert hatte, war definitiv weg. Irgendwann brach sie die Suche ab und schluchzte laut: „Das wäre nie passiert, wenn wir nicht aus unserem Zimmer raus gemusst hätten! Bestimmt ist er noch dort.“

 

(Sie erklärte mir später, dass Anna & Co in der Tat am Tag vorher ihr tolles Zimmer mit Seeblick wegen eines Privatpatienten hatten aufgeben müssen – und sie das wohl in ihren Traum eingebaut hatte.)

 

Weinend verkroch sie sich ins Bett, vergrub ihr Gesicht tief in das Kissen und zog die Decke über sich. Ihr Schluchzen wurde immer heftiger und lauter, bis ein Geräusch aus Richtung der Tür sie aufschrecken ließ. Vorsichtig linste sie unter der Decke hervor und erblickte – Teddy, der gerade den Kopf ins Zimmer steckte und erfreut rief: „Gott sei Dank! Da bist du ja. Das war vielleicht eine Odyssee, sag ich dir.“

 

„Teddy? Teddy! Wo warst du bloß?“, stieß sie noch immer schluchzend hervor. „Ich habe dich so vermisst.“

 

Teddy ging zum Bett, während er Lia betrachtete, die ihn noch immer mit Panik in den Augen anblickte. „Hilf mir erst mal hoch“, forderte er sie auf. Lia angelte nach ihm und setzte ihn sich auf den Schoß.

 

Tatsächlich war er zunächst in dem alten Zimmer vergessen worden und dann von einer Reinigungskraft entführt und in einen Schrank im Keller gesperrt worden, berichtete er dramatisch. Und erzählte weiter, wie er das Türschloss mit Hilfe einer in einer Handtasche gefundenen Haarnadel geknackt und die Zimmertür dank einer akrobatischen Leistung und des Schlüssels, den er schon vor langer Zeit an sich genommen hatte, aufbekommen hatte. Danach hatte er noch drei Stockwerke erklimmen müssen, um zu Lia zu gelangen.(Respekt, dachte ich nebenbei, das Kerlchen war nämlich nur 15 Zentimeter groß.)

 

„Und als ich endlich im richtigen Stockwerk war, war es auch nicht gerade einfach, dich zu finden. Wusste die neue Zimmernummer nicht,“ schloss er schließlich.

 

Lia nickte: „Ja, dieser nervige Umzug. – Du, Teddy, ich brauche deine Hilfe!!!“ „Wobei denn?“ „Wir müssen den Fuß gesund machen. Ganz schnell. Ich will nämlich nach Hause.“

 

Teddy starrte auf Lias linken Fuß, der richtig krank aussah: dick, rot, heiß, mit seltsamen Flecken und Beulen. „Was ist denn bloß mit dem Fuß? Warum heilt der nicht?“, fragte er.

 

„Das weiß keiner so genau. Der hat was ganz komisches. Ich weiß es.“

„Und was?“, hakte Teddy nach.

„DAS weiß ich eben nicht.“

Teddy inspizierte den Fuß.

Lia blickte ihn schwankend zwischen Verzweiflung und Hoffnung an: „Du kannst das doch, oder?“

 

Teddy wirkte unsicher, während die Zehen an Lias Fuß neben ihm zu zucken begannen. „Das tun sie manchmal“, erklärte Lia. „Könnte sein, dass da…“, fragte Teddy zögernd, streckte seine Tatze aus und berührte Lias Fuß vorsichtig. „WAS?“, drängte ihn jene prompt. „Was ist?“ Teddy runzelte irritiert die Stirn. „Bitte bekomm jetzt keinen Schreck“, setzte er an, woraufhin ihn Lia selbstverständlich erschrocken anstarrte. (Zu Teddys Ehrenrettung: Er hat mir später erzählt, dass er sonst deutlich weniger ungeschickt ist bei sowas.) „Also“, versuchte er es erneut, „das klingt jetzt vielleicht furchtbar schrecklich, aber…“, Lia guckte noch entsetzter und ich sah Teddy tief Luft holen. „Ich vermute, da steckt ein Monster drin“, platzte er dann heraus.

 

Ich denke, er erwartete, dass Lia anfangen würde zu weinen, denn er hob schon seine Tatze, wohl um sie zu trösten. Aber Lia ist immer für eine Überraschung gut. Sie sagte nur: „Ja, so etwas habe ich mir schon gedacht. Und was tun wir jetzt?“ „Ich denke, wir sollten versuchen, mit ihm zu reden.“ – „REDEN? Meinst du, es antwortet?“ Lia starrte fragend vom Fuß zu Teddy und zurück. „Probieren wir es aus!“ Teddy hockte sich neben den Fuß und sprach ihn an. Die Zehen zuckten. „Monster, kannst du mich hören?“, fragte Teddy. Ein weiteres Zucken der Zehen und ein gezielter Tritt in seine Richtung – so gezielt, dass er vom Bett flog – waren die Antwort.

 

„Uff“, Teddy landete stöhnend auf dem Boden und schlitterte fast unter den Nachttisch, nur gestoppt von einem Paar Hausschuhen. Lia spähte besorgt vom Bett: „Alles klar?“ „Jupp!“, Teddy rappelte sich auf. „Das war doch mal ein Anfang.“ Lia half ihm zurück auf das Bett. Noch vorsichtiger als vorhin näherte er sich dem Fuß und kam nicht mal mehr dazu, sein Hallo ganz auszusprechen – so schnell flog er ein weiteres Mal durch die Luft und landete zunächst auf dem Fensterbrett, beim nächsten Versuch unter der Heizung und schließlich flog er im hohen Bogen durch das Zimmer und landete an der gegenüberliegenden Wand unter dem Stuhl. „Ok! Das war Flugrekord.“

Nach drei weiteren Kontakt- und genauso vielen Flugversuchen schlug Teddy vor, es anders zu versuchen, und fing an, an Lia hochzuklettern. „Was soll das jetzt, Teddy, das ist nicht die Zeit zum Spielen.“ „Ich bring mich in Sicherheit. Ich denke mal, auf deiner Schulter erreicht mich der Fuß nicht, so gelenkig bist du nicht.“ Teddy machte es sich auf Lias rechter Schulter gemütlich und sprach den Fuß erneut an: „Hallo Monster, magst du mir vielleicht etwas von dir erzählen?“ Lias Fuß zuckte und trat wie wild in die Luft. Lia musste Teddy festhalten, damit er nicht abstürzte. Als er merkte, dass er den Bären nicht erreichen konnte, hielt der Fuß inne. Teddy sprach weiter.

 

Da passierte es: Eine sehr zornige Stimme hallte aus dem Fuß heraus quer durch das Zimmer – und was diese Stimme sagte, war so unschön, dass Teddy einen hilflosen Versuch machte, Lia beide Ohren zuzuhalten; er schaffte es natürlich nur, ihr eine Tatze in ein Ohr zu stopfen. Es waren die schlimmsten Schimpfworte, die eins sich nur vorstellen kann, die Teddy an den Kopf geworfen wurden. (Manche kannte Teddy nicht einmal, hat er mir später erzählt. Manches war aber auch ein klein wenig witzig, fand ich, zum Beispiel die Bemerkung des Monsters, dass Teddy das Fliegen dringend üben sollte, jedenfalls wenn eins die Schimpfworte wegließ.) „Das war das Monster! Es hat geantwortet!“, Teddy schien vor stolz fast zu platzen. Lia dagegen rollte die Augen: „Klar, das Gespräch war ungemein konstruktiv und produktiv. Wir sind einer Lösung sehr nahegekommen!“ „Ich dachte, du bist erst sieben. Woher kennst du solche Worte?“ „Das Leben in einem System, also mit vielen in einem Körper, bildet extrem“, konterte Lia trocken.

Es folgten etliche weitere Versuche Teddys, mit dem Monster in Lias Fuß Kontakt aufzunehmen. Ohne Erfolg. Teddy und Lia wirkten beide recht deprimiert.

 

Verständlich, dachte ich, während Lias Traum weiter wie ein Film vor meinen Augen ablief. Das einzige wirkliche Ergebnis bestand bis jetzt darin, dass Teddy und Lia nun über ein sehr großes Repertoire an neuen Schimpfwörtern verfügten.

„Also ein letztes Mal noch?“, fragte Teddy und klang sehr resigniert. Lia half Teddy schweigend auf ihre Schulter und biss sich fest auf die Lippen. Ich sah, dass sie die Tränen kaum noch zurückhalten konnte. Teddy sprach das Monster wie gewohnt an, wie gewohnt war ein Schwall von schlimmen Schimpfwörtern das Erste, was kam, begleitet von Zuckungen und Trittversuchen von Lias Fuß. Alles wie gehabt, das Monster hörte nicht auf zu schimpfen. „Ihr mistigen Grasdackel“ war noch das harmloseste. Als es jedoch Teddy als „nutzlosen Stofffetzen“ bezeichnete, war es unvermittelt Lias Hutschnur, die platzte:

„Halt Deine Klappe! Warum bist du so zornig? Warum? Warum habe ich deinetwegen so schlimme Schmerzen? Warum schreist du uns an? Wir wollen dir doch helfen!“ Das Monster hielt einen Moment inne und legte dann richtig los:

„Helfen, das sagt ihr jetzt – und am Ende werdet ihr abhauen, wie immer alle abgehauen sind. Ihr sagt, ihr bleibt, und habt schon längst vor zu gehen. Von wegen ‚ihr seid da‘. Versprecht doch einfach nichts, das ist besser als ein gebrochenes Versprechen. Hört auf zu lügen, zu betrügen, zu tricksen und Spielchen zu spielen.“ Das Monster schrie und schrie und schrie, ohne Atem zu holen: „Haut ab, wenn ihr sowieso gehen wollt. Richtig allein sein ist immer noch besser, als wenn ihr nur so tut, als wärt ihr da.“

 

Bei dem letzten Satz kickte dem Schreihals die Stimme weg und es gab einem lauten Knall. Teddy blieb der Mund offenstehen. Lia zuckte heftig zusammen ‒ und auf dem Bett saß das Monster. Lias Atem ging stoßweise und sie zitterte. Das Monster sah anders aus, als ich es nach den furchtbaren Hasstiraden am Anfang erwartet hätte; statt eines rotglühenden, zornigen, hasserfüllten Ungeheuers saß dort ein eiförmiges, blau-schwarzes Wesen mit riesigen, ängstlichen türkisfarbenen Augen und einem vom Weinen und Schreien verzerrten Mund. Silbrige Tränen liefen in Bächen über sein blaues Gesicht. Lediglich die Zehen, die auf dem saßen, was wohl sein Kopf war, und seine Ärmchen waren feuerrot. 

Gemalt mit Wasserfarben, knallig. Man sieht ein  Monster, das in etwa die Form eines Fußes hat, mit einem blauen Gesicht und silbernen Tränen. Der ovale Körper ist schwarz. Seine Arme sind rot. Oben auf dem Kopf hat es rote Zehen. Die Füße sind schwarz

Das Monster - nach einer Zeichnung von Anna!

„Teddy“, hauchte Lia entsetzt, „es ist draußen. Was tun wir jetzt?“ Das Monster weinte herzzerreißend wie ein Baby. Teddy pirschte sich an dieses merkwürdige Wesen heran und fing behutsam an, diese zehenartigen Auswüchse am Kopf zu streicheln und dabei beruhigende Worte zu murmeln. Das Monster weinte und weinte, der Schmerz schien es zu schütteln, es zitterte und schluchzte. „Ist das ein- und dasselbe Monster, Teddy?“, Lia war verwirrt, „es war doch so wütend und voller Hass und so gemein – und jetzt?“ „Angst und Alleinsein können sehr, sehr wütend machen, Lia“, antwortete Teddy. „Und sehr verzweifelt. Ich denke, es gehört zu der Gattung der Heimwehmonster. Die werden ganz furchtbar wütend, wenn sie kein Zuhause haben, und nisten sich dann gern in Körperteile von Menschen ein. Hat mir zumindest mal jemand erzählt – Schsch, alles gut!“, Teddy hielt das kleine Wesen mittlerweile fest in den Armen. „Alles ist gut!“

 

„ACH JA????“, mit einem wütenden Aufschrei befreite sich das Monster aus Teddys Armen. „Nichts ist gut, war gut oder wird je gut sein!“ PLONG! Wieder gab es einen Knall. Während Lia geradezu grün im Gesicht wurde, stöhnte Teddy erschrocken auf. Vor ihnen auf dem Bett saß immer noch das Monster, das mit aber einem Mal ganz anders aussah: mit einem grimmigen, zornigen Gesicht, rot-schwarz, angsteinflößend – mit scharfen Krallen an Händen, Füße und den Zehen am Kopf! „Auch noch ein Gestaltwandler“, ächzte Teddy.

 

In Sekundenschnelle hatte sich das Monster in seine rotglühende wütende Ausgabe verwandelt und scheinbar kaum noch etwas gemein mit dem kleinen Wesen, das zuvor trotz allem sehr anrührend ausgesehen hatte. Es setzte seine Schreiattacke fort. „Lüg mich nicht an! Es ist niemals alles gut!“, brüllte es. „Eigentlich hat es Recht damit“, sagte Lia leise zu Teddy. „Alles kann nie gut sein. Schon gar nicht, wenn man kein Zuhause hat. Ich kenn das.“ Nicht nur Teddy, sondern auch das Heimwehmonster schauten überrascht zu ihr. „Hey, du bist gar nicht so bl…“, setzte das Monster an, gestoppt von einer Hand- bzw. Tatzenbewegung Teddys. „Lass uns mal kurz die ganzen Beleidigungen einstellen, so kommen wir doch nicht weiter. Wir brauchen eine Lösung. Einverstanden?“ Und aus irgendeinem Grund nickte das Monster zögernd. „Auf jeden Fall kannst du nicht weiter in meinem Fuß wohnen, das tut einfach zu dolle weh“, stellte Lia fest. „Und wo soll ich dann hin?“, das Monster sah sie herausfordernd an. Unsicher glitt Lias Blick zu Teddy, der angestrengt die Wand fixierte. Ganz offensichtlich wusste auch er nicht, wo eins heimatlose Monster unterbrachte. „Das war ja so was von klar, ihr (*zensiert)“, fauchte das Monster, trat dieses Mal höchstpersönlich nach Teddy, verfehlte ihn und fuhr zurück in Lias Fuß.

 

„Aua“, Lia war zusammengezuckt, als das Monster wieder den Fuß besetzte. „Das tat weh, verdammt noch mal. Teddy! Wir schaffen das nicht allein!“ „Ja“, gestand Teddy ein. „Hast du noch eine Idee?“ „Vielleicht“, Lia rutschte vom Bett, kletterte auf das Fensterbrett, öffnete das Fenster einen Spalt und starrte hinaus in die Nacht. „Hilf mir“, flüsterte sie eindringlich. „Hilf mir, Merlin.“

 

Und damit wären wir also wieder in jenem Moment angekommen, in dem ich die Bühne, ähm, den Traum betrat. Lia sah auf und der Bilderstrom, der von ihr zu mir geflossen war, brach ab. „Das ist, glaube ich, alles, was du wissen musst. Das Monster ist wieder in den Fuß zurück, weil wir keinen Ort für ihn wussten. Weißt du einen?“, sie sah mich fragend an.

 

Ich begann, mein Gesicht zu putzen. Dabei kommen mir in der Regel die besten Ideen. „Ja“, sagte ich schließlich, „weiß ich. Aber erst mal müssen wir was anderes klären. Wenn ich das richtig sehe, habt ihr das Monster noch nicht nach seinem Namen gefragt.“ „NEIN, natürlich haben die beiden (*zensiert) das nicht getan!“, brüllte das Monster im Fuß los, bevor Teddy oder Lia reagieren konnten. Ich ließ mich von dem Geschrei nicht sonderlich beeindrucken. „Na, dann frag ich jetzt“, kommentierte ich knapp. „Wie heißt du?“

„G90.6“, obwohl das Monster schon wieder brüllte, schien es irgendwie zufrieden zu sein, zumindest bis Teddy sich nicht mehr beherrschen konnte und in einem Lachanfall laut herausplatzte: „Das ist doch kein Name, sondern höchstens eine Diagnose.“ Teddy lebte eindeutig schon zu lange in einem Krankenhaus. Den Wutanfall, der nun folgte, gebe ich lieber nicht wieder; das einzig Positive war, dass das Monster erneut mit einem lauten Knall auf dem Bett landete. „Autsch!“, Lia biss sich die Lippe fast blutig. „Dieses Rein und Raus in den Fuß tut echt weh!“

„Es ist der einzige Name, den ich je hatte – und ein Teddybär, der Teddy heißt, ist ja nun wahrlich auch nicht besonders originell“, fauchte das Monster und war so außer sich, dass es seine Gestalt nicht halten konnte, sondern im Sekundentakt zwischen der weinenden Baby-Monster-Ausgabe und dem roten Ungeheuer hin- und herwechselte. Ich entschloss mich, schleunigst ein paar schlichtende Worte von mir zu geben, bevor der Streit eskalierte: „G90.6 ist ja gar nicht schlecht.“ Ich kratzte mich kurz hinter dem Ohr und fügte dann beiläufig hinzu: „Aber Karlchen würde schon besser zu dir passen.“ Während das Monster ad hoc mit dem Gestaltwandeln aufhörte und sich in seinem Gesicht zum ersten Mal der Ansatz eines Lächelns zeigte, setzte Teddy zu einem Kommentar an: „Karlchen ibbrmmpffff“ – weiter kam er nicht, Lia, die Teddy wohl grad zu unberechenbar fand, hatte ihre Hand blitzeschnell auf seinen Mund gedrückt ‒ „… ist super, wollte ich sagen“, erklang es undeutlich zwischen ihren Fingern hervor.

 

Ich beschloss, weiterhin unauffällig zu agieren, und begann damit, sehr gründlich meine linke Vorderpfote zu putzen, und murmelte dabei: „Ich wüsste... ja einen Ort. …Aber …da dürfen …NUR MONSTER … … wohnen.“ Ich tat dabei so unbeteiligt, als würde ich über das Wetter plaudern, um Karlchen nicht wieder zu verschrecken. Ja, meine Aufgaben erfordern oft mehr Diplomatie und Strategie als Magie. Das Monster, mittlerweile wieder in seiner Baby-Gestalt, sah mich neugierig an und rutschte näher an mich heran. Und noch näher. Und nach ein paar Sekunden noch ein winziges Stückchen. Mit seinen riesigen Baby-Augen starrte es unverwandt zu mir. Ich tat bewusst so, als gebe es nichts Wichtigeres als Fellpflege (nun, dem ist ja in der Tat so, lediglich Schlafen wird von uns Katzen als noch wichtiger eingestuft). „Bitte…“, flüsterte das Monster. Inzwischen saß es zwischen meinen Vorderpfoten. Ich tat so, als hätte ich es gerade erst bemerkt, und flüsterte dann etwas. Weder Teddy noch Lia hörten, was ich sagte.

Die Augen des Monsters leuchteten: „Ehrlich?“ Aufgeregt hüpfte es auf und ab. „Wie kommen wir dahin? Bringst du mich hin?“ „Was? Was hast du gesagt? Wohin wollt ihr? Ich will mit, ich bleibe hier nicht wieder ohne dich“, rief Lia – und Teddy schloss sich lauthals an. Ich wiederholte, was ich gesagt hatte und stimmte zu: „Geht klar.“

 

Der Ort, zu dem ich Karlchen bringen wollte, existiert ausschließlich in der Dimension der Träume, wo wir uns ja schon befanden, sodass wir nicht durch Raum und Zeit reisen mussten. Ich konnte uns daher ganz einfach mittels Gedankenkraft dorthin bringen und Teddy und Lia mitnehmen, zu ihrer großen Freude. Ich konzentrierte mich kurz, umfing die drei mit meiner Magie uuund …

 

…schon standen wir vor einer sehr hohen, grünen Hecke. „Da sind wir“, erklärte ich und kratzte mit einer Vorderpfote an einer riesigen blauen Tür, die sich in der Hecke befand. „Hoffentlich ist da schon jemand wach.“ Leider kann ich nicht alles in der Dimension der Träume beeinflussen, vieles hat da ein gewisses Eigenleben. So war es plötzlich sehr früh am Morgen, am Horizont ging gerade erst die Sonne auf und die ersten Vögel begannen leise mit ihrem Gezwitscher. Ich kratzte erneut an der Tür. „Komm ja schon, komm ja schon“, ertönte eine laute, poltrige Stimme. „Nicht so eilig, nicht so eilig.“ Quietschend öffnete sich die Holztür – und vor Karlchen, Teddy, Lia und mir stand eine riesige, geradezu gewaltige Monsterdame mit ungefähr acht Armen. Mindestens, so genau war das nicht zu erkennen, weil sie mit allen wild gestikulierte. Zudem hatte sie die äußerst anstrengende Angewohnheit, alles 2x zu sagen. Ich erspare euch das im weiteren Verlauf. Ihr Fell war zottelig und knallpink und sie hatte irgendwie zu viele Augen. Fünf oder sechs? „Hab euch schon erwartet. Rein mit euch.“ Die Monsterdame öffnete breit grinsend die Tür ganz und entblößte dabei eine Reihe krummer Zähne. Ängstlich sah Karlchen zu mir, ich stupste ihn an und schob ihn durch die Tür. Lia und Teddy folgten zögernd. Das Gelände, auf das wir blickten, war schlicht und ergreifend ein Paradies für Monster: Vor einem Haus dicht am Eingang türmten sich Berge von Kuchen, Keksen, Puddingschüsseln – offensichtlich wurden hier die Krümelmonster versorgt. Weiter hinten, in einer großen Mulde zwischen grünen Hügeln gab es Schlammlöcher, die blubberten, dampften und von denen ein seltsamer Geruch ausging. Mehrere kleine, sehr schmutzige Monster lagerten dort und schienen sich pudelwohl zu fühlen. Ab und an warf eins eine Hand voll Matsch mit Karacho nach seinen Freund:innen, was jeweils lautes Gegröle und Applaus auslöste.

 

Rechter Hand gab es eine Reihe von Höhlen, mit Kissen und Decken, die Karlchen sofort ins Visier nahm. Zielsicher hatte er die Schlafplätze für die Monster, die zu den Heimwehmonstern gehörten, entdeckt. Ein paar von ihnen lümmelten dort dicht aneinander gekuschelt herum. Bei den meisten war noch zu erkennen, in welches menschliche Körperteil sie sich eingenistet hatten, bevor sie hierherkamen: Eines hatte wie Karlchen Zehen am Kopf, ein anderes Finger, ein drittes sah aus wie ein Bauch auf Beinchen. Autsch, ich zuckte bei der Vorstellung zusammen, ein solches Monster im Bauch zu haben. Während sich Karlchen in die Kissen stürzte, sah ich mich zusammen mit Lia und Teddy weiter um. Die beiden folgten mir die ganze Zeit, Bauklötzer staunend. Wir entdeckten einen Kreis von ganz furchtbar aussehenden Wesen. Die Monsterdame grinste: „Unsere Selbsthilfegruppe für die Ganz Bösen Monster.“ Irgendwie verspürte ich kein Bedürfnis, weiter nachzufragen, obwohl die Pinke Dame anfügte: „Die angeblich Ganz Bösen Monster. Hah.“

Hier gab es für jede Art von Monstern eine spezielle Ecke. Irgendwie wie eine Kita, nur für Monster. Bevor wir unseren Rundgang fortsetzen konnten, stürzte Karlchen strahlend auf mich zu und schlang seine Ärmchen um mich. „DANKE!!! Danke, dass du mich hierhergebracht hast!“ Ich befreite mich sanft aus der Umklammerung und musterte Karlchen staunend: Das Blau – seine wahrhaftige Farbe – setzte sich schon nach der kurzen Zeit hier immer mehr durch. Nach und nach würden das Rot und das Schwarz, die Farben der Wut, Trauer und Angst, wohl ganz verschwinden. Ich warf der Monsterdame einen doch leicht überraschten Blick zu, aber die nickte bloß heftig und sagte: „Jaja. So geht es allen. Kommen hierher und meinen, sie sind böse. Und nach fünf Minuten …!“

Ich wandte mich Karlchen zu, der – plötzlich wieder ganz traurig – fragte: „Du bleibst nicht hier, oder?“ „Nein, in der Dimension der Träume kann ich nicht bleiben, aber ich komme dich besuchen, o.k.?“ Karlchen nickte und schlang noch einmal fest seine Arme um mich. Dann wandte sich er ab und stürzte sich mit einem lauten Schrei in die gerade beginnende Kissenschlacht unter den Heimwehmonstern. „Jetzt hat er ein richtiges Zuhause“, sagte Lia leise. „Das ist schön.“ Wir sahen ihm noch einen Moment zu, wie er mit seinen neuen Freund:innen tobte; dann konzentrierte ich mich erneut und brachte uns in das Krankenhauszimmer zurück.

 

Erleichtert, dass sie ihr Monster los war, ließ sich Lia mit mir und Teddy auf das Bett fallen und begann, mich liebevoll hinter den Ohren zu kraulen. „Danke, Merlin“, flüsterte sie. Ich schnurrte vor mich hin, gab uns ein paar Minuten Kuschelzeit und verließ schließlich Lias Traumwelt, allerdings nicht ohne ausnahmsweise ein klein bisschen Magie eingesetzt zu haben, sodass sie für eine Weile von verworrenen Träumen verschont bleiben würde.

 

Nachtrag: Also, erstens: Heimwehmonster gibt es wie alle Monster ausschließlich in der Dimension der Träume. Sollten in euren Träumen mal welche auftauchen, wisst ihr jetzt, wo ihr sie hinschicken könnt.

Und zweitens machte ich das reale Krankenhaus, in dem Anna & Co waren, am nächsten Tag natürlich ausfindig, und ließ sie den Rest des Aufenthaltes nicht mehr allein. Tagsüber blieb ich auf dem Gelände, nachts schlich ich mich in das Zimmer und schlief an sie gekuschelt unter der Decke. An den Visiten allerdings nahm ich teil, damit Anna & Co sich nicht so allein fühlten. Ich kann mich leider nicht komplett unsichtbar machen, aber ich kann ganz gut mit der Umgebung verschmelzen, sodass ich in aller Regel nicht entdeckt werde. Schon „einfache“ Besuche bei Ärzt:innen können für komplex traumatisierte Menschen ein Albtraum sein. Untersuchungen/Behandlungen, das Ausgeliefertsein, dass sie oft nicht ernst genommen werden und vieles mehr kann unglaublich triggern und ängstigen. Ein Krankenhausaufenthalt ist daher noch eine viel größere Belastung; fernab von der gewohnten, sicheren Umgebung.

 

So weit für heute. Ich hoffe, euch hat die Geschichte gefallen. Wie immer dürft ihr mir gern einen (wohlwollenden) Kommentar hinterlassen.

 

Bis bald, es grüßt euch herzlich euer Merlin.

 

 

 

Kommentare: 6
  • #6

    Ginny (Donnerstag, 08 Juni 2023 06:47)

    Ich mag es, wie du Geschichten und Infos über Trauma verbindest. Und ich mag Karlchen.

  • #5

    Esther P. (Dienstag, 04 April 2023 16:52)

    Ich liebe diese Geschichte! Sie ist einfach ganz zauberhaft. So wie Du, lieber Merlin, Deine Geschichten und dieser Blog im Allgemeinen!

  • #4

    @energiepirat (Donnerstag, 23 März 2023 18:30)

    Eine wirklich zauberhafte Geschichte. Sehr wohltuend zu lesen. Danke, Merlin!

  • #3

    Jenne (Donnerstag, 23 März 2023 15:52)

    Lieber Merlin, es war wieder so schön, deine Geschichte zu lesen �
    Ganz lieben Dank dafür �

  • #2

    Claudia Maria (Mittwoch, 22 März 2023 18:16)

    So schön �❤
    Danke für den Blog
    Es macht Spaß eure Geschichten zu lesen,
    Wie wäre es wenn ihr mal ein Buch raus bringen würdet . Freue mich auf mehr von euch und folge euch auch auf Insta

  • #1

    Noch ein Merlin� (Dienstag, 21 März 2023 14:47)

    Hi Anna,
    Hi Merlin,

    danke für diese wunderbare Geschichte.
    Es macht einfach Spaß und Freude die (Traum) Erlebnisse zu lesen. Man fühlt sich in eine Zeit versetzt, in der man noch selbst Kind war, in der man gerne geträumt hat von Abenteuern und vom ein bisschen Held sein :) Vieles fällt einem da wieder ein ..., vor allem Schönes.
    Dazu fällt mir auch grade das ein:
    "Irgendwo tief in mir bin ich ein Kind geblieben ... erst wenn ich es nicht mehr spüren kann, weiß ich, es ist für mich zu spät." (Aus Peter Maffays Tabaluga "Ich wollte nie Erwachsen sein")
    Erhalten wir uns also dieses wunderbare Kind in uns. Es hält nicht nur jung, es schenkt auch viel Trost, grade in diesen Zeiten.

    Bis Bald, liebe Grüße zu euch, Merlin und sein Dosenöffner�������