Miau und hallo, meine zauberhaften Leser*innen, willkommen zu einem neuen Abenteuer!
Ich habe euch noch gar nicht von Elchi und Elchili erzählt, oder? Das sollte ich schleunigst nachholen, denn die zwei spielen in der Geschichte eine tragende Rolle, wie ihr ja schon am Titel erkennen könnt.
Also, Elchili und Elchi sind zwei Plüschelche. Der Große, Elchi, wohnt in Hamburg bei Annas guter Freundin Alex. Der Kleine, Elchili, bei uns.
Kennengelernt haben die beiden sich vor 20 Jahren in einer Klinik, wo sich Anna & die anderen mit Alex anfreundeten. Die beiden Elche sind genauso gute Freund*innen wie Anna und Alex.
Aber, aber, was sind denn das für Fragezeichen auf euren Gesichtern?! Ihr wisst doch, dass Kuscheltiere nicht nur leblose Stofffetzen sind, oder? Oder? Sie können nicht nur sprechen, sondern führen ein ganz eigenes Leben.
Hat euch euer Teddy oder Hase oder wer immer euch sonst begleitet hat, denn nie in dunklen Nächten zugeflüstert, dass irgendwann alles gut werden würde? Euch getröstet, wenn ihr traurig, ängstlich oder zornig wart? Habt ihr euch nie gewundert, wenn sie plötzlich ganz woanders saßen, wenn ihr nach Hause kamt, statt brav auf dem Bett auf euch zu warten?
Na, also.
Elchi und Elchili haben miteinander schon sehr lustige und aufregende Abenteuer erlebt. Die beiden sind schwer in Ordnung, stellen jedoch hin und wieder ziemlichen Unfug an. Erst vor kurzem haben sie mir und den Tieren aus dem Zauberwald mächtig Ärger bereitet. Vor allem mir. Ich war zwischenzeitlich wirklich extrem sauer auf die beiden.
Warum fragt ihr?
Nun, da fange ich am besten an dem Tag an, an dem ich sehr unerfreuliche Post aus dem Zauberwald bekam:
Es war Anfang Januar 2023, ich lag gemütlich zusammengerollt auf dem Kratzbaum, als ich Anna auf dem Balkon fluchen hörte. Nanu? Eigentlich hatte sie doch nur mal tief durchatmen wollen.
„Ne Schnecke im Winter – und dann noch so eine riesige knallrote?“
Oh! Hellhörig geworden stieg ich vom Kratzbaum und stapfte auf den Balkon. Voller Ekel starrte Anna in einen der Balkonkästen, die Gute hat ein echtes Problem mit Insekten und Kriechtieren.
„Ich kümmer mich drum“, teile ich also Anna mit und sie verzog sich dankbar.
Ich kletterte das von Anna gebaute kleine Treppchen zur Brüstung hoch (ja, sie hatte die Wohnung an mein Spring-Handicap angepasst) und sah nach. Wie ich es vermutet hatte: Ich hatte Schneckenpost. Wir Tiere aus dem Zauberwald verschicken unsere Post über magische, feuerrote Riesenschnecken. Ihr braucht jetzt nicht zu lachen, unsere Schnecken sind zuverlässiger und schneller als eure ganzen Zustellunternehmen. Die Schnecke trug zwei kleine zusammengerollte Briefe, einer davon in giftgrün.
Verdammter Feenstaub. In dem Moment ging es mir wie Anna, wenn sie zum Briefkasten muss. Ich bekam Angst. Seit Anna auf verschiedene Ämter angewiesen ist, gibt es Phasen, da bricht bei ihr die Panik aus, wenn sie nur an Post denkt. Die ewige Sorge, ob der erwartete Bescheid womöglich eine Ablehnung ist. Das Warten. Die Ungewissheit. Die Ohnmacht. All das kann im System triggern und u.a. zu ständiger Anspannung und Unruhe führen. Also, getriggert war ich nicht, aber besorgt. Ich nahm der Schnecke beide Briefe ab, dankte ihr und verzog mich unter das Bett.
Ich öffnete zunächst das giftgrüne Ding und überflog es. Große Katze im Himmel, was war passiert? Dunkel erinnerte ich mich daran, dass vor ein paar Tagen Elchi in die Wohnung geplatzt war, sich Elchili geschnappt hatte und mit ihm abgehauen war. Die beiden waren doch nicht etwa …? Ich krabbelte unter dem Bett hervor und knüpfte mir den unschuldig guckenden Elchili vor:
„Was habt du und Elchi zum verdammten Elf angestellt!?!“ Der kleine Elch wandt sich eine Weile, bis er endlich mit der Sprache herausrückte. Was er mir erzählte, war eine mittlere Katastrophe und erklärte beide Briefe. Ich saß bis zum Hals in Zaubertinte.
Folgendes war passiert: Annas gute Freundin Alex aus Hamburg hatte vor kurzem einen Fahrradunfall gehabt. Beinbruch, angeknackste Rippen. Gehirnerschütterung. Kurz: Es ging ihr nicht gut. Nicht nur Anna machte sich große Sorgen, sondern natürlich auch Elchi. Und der kam auf eine so geniale wie verhängnisvolle Idee. Er sprang in seinen Hubschrauber (ja, er besitzt einen eigenen, fragt nicht) und flog zu Elchili. Nach ein paar Minuten aufgeregten Getuschels verschwanden sie gemeinsam. Daran erinnerte ich mich, hatte mir nur leider nichts bei gedacht. Die zwei unternahmen schließlich ständig was zusammen. Hätte ich nur genau zugehört, so wie die beiden, wenn ich Geschichten aus dem Zauberwald erzähle. Einige wenige magische Tiere aus dem Zauberwald besitzen Heilkräfte, die bei Menschen wirken. Klecks, ein magischer Hund, ist eins davon.
Klecks
Genau von dem hatte ich neulich eine Anekdote preisgegeben, da er seit 2017 zum Vorstand des Rates der Magischen Tiere gehörte.
Elchi und Elchili hatten sich also in den Kopf gesetzt, Klecks zu finden und zu Alex zu bringen, damit er sie heilte!
Für nicht-magische Wesen ist es eigentlich nicht möglich, den Weg in den Zauberwald zu finden, da er in einer anderen Dimension liegt. Kuscheltiere können zwar viel, aber nicht von Dimension zu Dimension springen. Für Notfälle – und damit sind wirkliche Notfälle gemeint, solche bei denen es um Leben und Tod geht – gibt es natürlich auch andere Wege, eigentlich gedacht für magische Tiere, die die Fähigkeit des Dimensionenspringens verloren hatten –, in seltenen Ausnahmefällen auch für nicht-magische Wesen in Not. Nun jaaa, ich war insbesondere in den ersten Jahren bei Anna so besorgt um das System gewesen, dass ich aufgeschrieben hatte, wie Anna und die anderen im Zweifel in den Zauberwald kämen, und den Brief im Keller in einer Kiste verstaut hatte. Ausschließlich für den Fall, dass mir etwas passierte und sie Hilfe brauchten. Ich hatte das damals für eine gute Idee gehalten, nun würde es mir vermutlich zum Verhängnis werden.
Woher Elchi und Elchili von dieser Kiste wussten, war mir zunächst ein Rätsel. Aber die beiden stecken ihre Nasen halt überall rein. Was dann passierte, ist nur noch als mega absurd zu bezeichnen.
Laut Elchili hatten die beiden sich den ganz geheimen Brief aus Annas Keller geholt, trocken gefönt (Gab kurz vorher einen Wasserschaden im Keller), waren in den Hubschrauber gesprungen und losgeflogen. Nach London, denn einer der Zugänge zum Zauberwald für nicht-magische Wesen befindet sich innerhalb einer uralten verzauberten Eiche in der Nähe des Buckingham Palace. Sorgfältig, wie ich bin, hatte ich notiert, was sie nun tun mussten: Dreimal klopfen und dabei das Codewort murmeln: ‚Thunfischpastete‘, natürlich hatte ich auch das notiert. Allerdings in sehr krakeliger Schrift, wie sich Elchili bei mir beschwerte. Der hat echt Nerven!
So standen die beiden Helden also vor einer schmalen, elendlangen Wendeltreppe im Inneren der Eiche, die sie unter Schnaufen und Motzen hinaufkletterten. Dabei kommt die eigentliche Herausforderung erst, wenn das Ende der Treppe erreicht ist. Dort stößt eins nämlich auf eins der magischen Trampoline, die jene Lebewesen in den Zauberwald katapultiert, die nicht von Geburt an von Dimension zu Dimension springen können oder diese Fähigkeit verloren haben. Dies ist keine wirklich angenehme Erfahrung, wie mir Elchili empört erzählte, als ich ihn zur Rede stellte. Die beiden hatten sich tapfer an den Vorderhufen gepackt, sprangen so wild, wie sie nur konnten, und dachten fest an den Zauberwald. Insgeheim war ich ja ein bisschen beeindruckt, wie korrekt sie die Anleitung ausführten. Bereits nach drei Sprüngen hatten sie es laut Elchili geschafft und das magische Trampolin schleuderte die zwei in die Luft und quer durch Raum und Zeit. Ich bin noch nie Achterbahn gefahren, aber angeblich fühlt sich das so an wie Achterbahnfahren hoch zehn.
Die Landung auf einer Lichtung im Zauberwald dagegen war verhältnismäßig sanft. Das ist von uns Tieren aus dem Zauberwald so eingerichtet worden, damit unsere Besucher*innen heile und nicht in ihre Einzelteile zerlegt ankommen. Trotzdem musste den beiden wohl recht übel geworden sein, denn – so Elchili -, sie waren „total grün im Gesicht“. Unter dem Plüsch, versteht sich. Nach dieser Erfahrung wollten die beiden nur noch eins: Ganz schnell Klecks finden und ab nach Hause. Ganz so einfach sollte das nicht sein. Die Stelle in Elchilis Erzählung hat mich am meisten verwundert. Normalerweise wird die Landungsstelle für nicht-magische Wesen von einem starken magischen Raubtier bewacht. Sie jedoch trafen auf eine junge Katze, die offensichtlich ihre Gestaltwandlungsfähigkeiten nicht im Griff hatte.
Bei dem Versuch, die beiden Elche zur Rede zu stellen, wechselte sie mehrmals unter lauter Knallerei und mit viel Rauch ihre Gestalt. Von einer Katze zu einem Katzenbaby, zu einer Fee und schließlich zu einer Art Punkerkatze. Wir sind wirklich exzellent bewacht. Später habe ich erfahren, dass Sally, so ihr Name, in der Tat noch in der Ausbildung ist.
(Kleine Anmerkung zwischendrin: Es gibt nicht allzu viele sogenannte Gestaltwandler*innen im Zauberwald. Gestaltwandler*innen sind magische Tiere mit der besonderen, angeborenen Fähigkeit, eben die Gestalt zu wechseln, wie der Name schon sagt. So können sie als jedes Tier, Wesen oder auch als Mensch in Erscheinung treten, ganz wie ihnen gerade ist.)
Immerhin schaffte es Sally wohl irgendwann zu fragen, wer sie seien und was sie wollten. Eilig bemühten sich die beiden zu erklären, dass sie lediglich zu Klecks wollten und warum. An dieser Stelle nahm Sally ihre Aufgabe leider sehr ernst und verfuhr nach Protokoll. Alle, die im Zauberwald zu Gast sind, müssen erklären, woher sie von diesem Ort wissen. Nun, das war also der Moment, an dem die beiden unter viel Stottern gestanden, dass sie beim Toben im Keller schon vor Jahren zufällig über meine sorgfältig versteckte Kiste gestolpert waren und die Aufschrift ‚Für Anna. Nur im Notfall öffnen.‘ ignoriert hatten. Der Moment, in dem sie mein Schicksal besiegelten. Sally verzog keine Miene und nickte bloß. „Merlin, die olle Plaudertasche.“ Mein in dem Punkt zweifelhafter Ruf war wohl selbst bei jungen magischen Tieren legendär.
Eine Regel bei uns im Zauberwald ist, dass wir in einer solchen Situation erst mal helfen und später intern klären, wer den Mist gebaut hat. Menschen machen das ja lieber andersrum. Die beiden hatten den Weg hierher geschafft, also würde sich um ihr Anliegen gekümmert werden.
Daher fuhr Sally sachlich fort: „Ich bringe euch zu einem Wesen, das immer weiß, wo Klecks sich aufhält.“ Und forderte Elchi und Elchili auf, ihr zu folgen. Der Weg war wunderschön, über viele kleine Lichtungen, entlang an einem Bach, bis sie schließlich ihr Ziel erreichten, schwärmte Elchili.
Ebenso märchenschön ist das Haus, bei dem sie ankamen. Es gehört Schneewittchen. Nein, nicht dieser jungen Frau mit schwarzen langen Haaren. In Wahrheit ist Schneewittchen ein … nun, eine Art niedliche und sehr kleine Version von Nessie, dem Ungeheuer von Loch Ness. Sie trägt grundsätzlich eine Baseballkappe, natürlich verkehrt rum aufgesetzt.
Schneewittchen ist eins der liebevollsten Wesen im Zauberwald, das ich kenne, und so begrüßte sie die beiden aufs Freundlichste und versorgte sie mit Limonade, Eis und Kuchen. Schließlich teilte sie unseren beiden Helden die unschöne Tatsache mit, dass Klecks derzeit gar nicht im Zauberwald verweilte, sondern in … Windsor Castle – vor dem Grab der Queen.
Ja, so müssen Elchi und Elchili auch geguckt haben, aber ihr lest richtig. Das Problem mit Klecks, der ja eigentlich Vorstandstier war, war seine Leidenschaft für europäische Königshäuser. Ständig vernachlässigte er seine Aufgaben, weil er zu sämtlichen royalen Ereignissen quer durch Europa reiste. Nun hockte er also in tiefer Trauer seit Monaten vor dieser Gruft. Unsere beiden Elche waren der Verzweiflung nahe, zumal sie sich das Magische Trampolin hätten sparen können, hätten sie das vorher gewusst. Schneewittchen, nicht nur freundlich, sondern stets überaus gut gelaunt, erklärte den beiden fröhlich, dass es von hieraus einen anderen Weg direkt nach Windsor Castle geben und sie selbstverständlich dafür sorgen würde, dass sie dort auch ihren Hubschrauber finden würden, um nach Hause fliegen zu können, wenn sie ihre Mission beendet hätten. Dieser andere Weg ist eine magische Rutsche, diese sind recht … speziell … geschwungen, sie gehen zunächst sehr steil nach unten, dann aber in einem Bogen genauso steil wieder in die Luft. Sie sind nicht wirklich angenehmer als magische Trampoline. Die Erfahrung machten Elchi und Elchili auch, nachdem sie die 500 Stufen zur Rutsche hinaufgeklettert waren und am Ende der Rutsche erst durch die Luft und dann erneut durch Raum und Zeit geschleudert wurden.
So landeten die beiden also im Park von Windsor Castle. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt hatten sie die Nase trotz der wunderbaren Wanderung durch den Zauberwald schon gestrichen voll. Elchili berichtete, dass Elchi nur noch genervt gebrummt hatte, dass sie jetzt schleunigst diesen ‚Verdammten Hund‘ finden sollten, er wollte nach Hause. Just in dem Moment hörten die zwei ein herzzerreißendes Winseln aus der Ferne. Klecks. Eiligst schüttelte Elchili die Packung Kekse, die ihnen Schneewittchen für den magischen Hund mitgegeben hatte. Nach mehrmaligem Rascheln mit der Packung war zögerliches Pfotentapsen auf dem nassen Gras zu vernehmen und schließlich hockte Klecks neben Elchi und Elchili.
Sichtlich verwirrt legte er den Kopf schief und bemerkte:
„Ihr seid ja Elche. Schneewittchen hat mich über magischen Funk informiert, es kämen zwei Elfen, die mich zu einem neuen Auftrag bringen würden. Der Empfang vor der Gruft ist wirklich mies.“
Während er die Kekse verschlang, schwärmte er ununterbrochen von der Schönheit königlicher Parks und Schlösser und ließ durchblicken, dass er nicht begeistert davon war, für einen Auftrag nach Hamburg umzusiedeln, selbst wenn es da einen Menschen gab, der ihn dringender brauchte als eine tote Königin. Es sah nicht so aus, als wäre Klecks zu überzeugen, Windsor Castle zu verlassen, wenn er Schlösser und Burgen sogar dem Zauberwald vorzog. So griff Elchi kurzerhand zu einer List, berichtete Elchili bewundernd. Er machte Klecks weis, dass es sich bei Alex um die geheime Königin von Hamburg handelte, was er aber auf keinem Fall jemals verraten dürfte. Klecks, dem es trotz seiner Leidenschaft in all den Jahrhunderten nie gelungen war, in einem Königshaus zu leben, war entzückt. Gut, nach Elchilis Schilderung ist entzückt wohl noch untertrieben. Jedenfalls saß er schneller im Hubschrauber, als die beiden Elche gucken konnten und rief dabei ohne Unterlass: „Ich komme eure Majestät.“ (Alex ging es übrigens schnell besser, Klecks machte einen super Job bei ihr und die beiden verstanden sich gut, sodass Klecks beschloss bei seiner „Königin“ zu bleiben; Alex ist allerdings leicht genervt davon, ständig mit ‚Eure königliche Hoheit‘ angesprochen zu werden.)
Jo. Der Vorstand des Rates der magischen Tiere hatte just in diesem Moment also eins der Vorstandstiere verloren. Ein magisches Tier, das bei einem Menschen lebt, darf nämlich nicht gleichzeitig im Vorstand sein. Das erklärte den zweiten Brief, die Einladung zur Nachwahl eines Vorstandstiers.
So weit, so gut. Der giftgrüne Brief war eine andere Hausnummer. Giftgrün sind bei uns die Vorladungen zu Anhörungen wegen Regelverstößen. Es gab einen Hauptanklagepunkt, der schwer wog. Dank der beiden Elche wurde ich wegen Geheimnisverrats angeklagt. Gar nicht gut. Ok, also strenggenommen nicht wegen Elchi und Elchili, sondern weil ich Anna die Anweisungen hinterlassen hatte, wie sie im Notfall in den Zauberwald kam und weil Elchis und Elchilis Anliegen in den Augen des magischen Rates kein Notfall war, jedenfalls keiner, der ihr Erscheinen im Zauberwald gerechtfertigt hätte.
Unter dem ersten Anklagepunkt Geheimnisverrat gab es noch einen zweiten, der schlicht ‚Regelverstöße‘ lautete. Darunter war jede einzige noch so kleine Kleinigkeit der letzten 25 Jahre aufgelistet, die nicht so ganz den Regeln des Zauberwalds entsprach – seit meinem elenden Unfall in den 1990ern. Zu oft hatte ich Anna einfach geholfen, mit Mitteln, die ich mir vorab vom Vorstand hätte genehmigen lassen müssen. Das war mir ja klar gewesen, aber diese ganze Bürokratie, die es seit tausenden von Jahren auch bei uns gibt, hatte ich nur allzu gern allzu oft ignoriert. Wenn wir magischen Tiere derart tief in die menschliche Welt eingreifen, muss das vom Rat der Magischen Tiere abgesegnet werden. Ich hätte immer erst den Vorstand informieren müssen, der das Anliegen dem Rat zur Diskussion übergab – und dann erst die Entscheidung traf. Die Zeit hatte ich schlicht nicht gehabt.
Aber warum jetzt, nach all den Jahren? Mein Blick fiel auf die Unterschrift unter beiden Briefen:
Angelo – kommissarisches Vorstandstier.
Das erklärte alles. Angelo – mein schlimmster Albtraum.
Bis 2017 war Mascha, magische Leopardin und meine beste Freundin, im Vorstand gewesen – und es war ihr immer gelungen, schützend eine Pfote über mich zu halten und meine Regelverstöße zu decken. Ihre Strafpredigten, die ich trotzdem bekam, waren zwar auch nicht ohne, aber letztlich ohne Konsequenz. Und von dem Vorstand, der seit 2017 im Amt war, hatte ich nicht allzu viel zu befürchten gehabt, so wie er arbeitete. Angelo also. Wie zum Feenstaub war Angelo zum kommissarischen Vorstandstier geworden? Rhetorische Frage, entschuldigt. Um kommissarisch zum Vorstand zu gehören, musste eins nur zufällig am richtigen Ort sein und sich freiwillig melden. Dass er mich über all die Jahre beobachtet hatte, war zu vermuten gewesen, und natürlich ergriff er die Gelegenheit, mit mir abzurechnen. Ich hätte die Gefahr, die von ihm ausgeht, nicht derart verdrängen dürfen.
Ich hatte nur zwei Tage Zeit für die Vorbereitung. Verdammt wenig, denn es galt, meinen Ausschluss aus der Gemeinschaft der Magischen Tiere aus dem Zauberwald oder gar die Verbannung in eine sehr unwirtliche Gegend in der magischen Welt, die Steinernen Gärten, zu verhindern. In beiden Fällen würde ich nicht mehr bei Anna & den anderen leben können. Nur Tiere, die dieser Gemeinschaft angehören, dürfen bei Menschen leben. Tun sie es trotzdem, verlieren sie all ihre magischen Fähigkeiten. In den Steinernen Gärten versagt Magie grundsätzlich, da würde es kein Entrinnen geben, wäre ich einmal dort.
Verluste, Abschiede, Beziehungsabbrüche sind für viele Schwertraumatisierte besonders furchtbar. Das Gefühl, immer und immer wieder verlassen zu werden, sitzt bei vielen tief und ist in der Regel uralt. Die wichtigsten Bezugspersonen als Kind waren nicht da oder taten Böses, meistens beides. Einsamkeit ist daher eine der frühesten Erfahrungen. Ich kannte das selbst nur zu gut. Anna hat viele Innenpersonen, die nach wie vor nicht mit Abschieden umgehen können und bei jedem Verlust in das Gefühl zu sterben fallen und Anna damit überfluten. Eine Spirale aus Todesangst, Verzweiflung, Wut, Trauer, Schuldgefühlen, Selbsthass, dem Gefühl, wertlos zu sein. Was ein Abschied von mir zur Folge haben würde, mochte ich mir gar nicht ausmalen. Ich würde alles tun, damit das nicht passieren würde. So zog ich mich also zurück und arbeitete konzentriert an meiner Verteidigungsstrategie.
Als ich schließlich aufbrechen musste, schwankte ich zwischen Zuversicht und Sorge. Der Abschied von Anna & den anderen war mir noch nie so schwergefallen. Würde ich sie wiedersehen? Ich schluckte, konzentrierte mich auf den Zauberwald und sprang ins Nichts.
Sekunden später landete ich auf dem Versammlungsplatz, natürlich auf dem Bauch wie immer, nicht auf den Pfoten und sah, als ich den Kopf hob, in zwei mir sehr bekannte gelbe Augen.
„Vater“, nickte ich Angelo zu und versuchte dabei so eisig zu klingen, wie Angelos Augen mich anschauten.
„Sohn.“ Seine Begrüßung war genauso herzlich.
Ja, Angelo, ist mein Vater. Ein gefühlloser, ehemals schwarzer, jetzt eher grauer, massiger Kater, der nicht unbedingt zu den Guten zählt. Eher so ganz und gar nicht.
„Erst findet die Wahl statt und dann wird sich der neue Vorstand mit dir befassen“, teilte er mir mit. Gut, so blieb mir Angelo bei der Anhörung erspart.
„Ich werde die Anklage vertreten“.
Ok, also doch nicht. Aber wenigstens war er dann nicht mehr kommissarisches Vorstandsmittier und somit nicht entscheidungsberechtigt. Dass er Anklagevertreter war, war ätzend genug.
Ich nickte kommentarlos, wandte mich ab – und wurde mit einem Freudenschrei umgeworfen. Snowflake, mein bester Freund, Maschas Sohn und somit auch magischer Schneeleopard, begrüßte mich wie immer stürmisch. Er hat nie gelernt, dass er so viel größer ist als ich. Nachdem er sich beruhigt hatte, raunte er mir zu: „Ich werde die ganze Zeit an deiner Seite sein. Mach dir keine Sorgen.“ Leichter gesagt, als getan.
Die Wahl selbst war schnell erledigt. Das gestalten wir im Zauberwald sehr einfach. Jedes Tier, das sich vorstellen kann, diesen Posten zu bekleiden, wirft seinen Namen in einen Kessel und der oder die Vorstandsvorsitzende zieht schließlich einen der Zettel daraus. Wahl per Losverfahren, damit alle die gleiche Chance haben. Zurzeit war Maxi, eine sehr junge, magische Gorilladame Vorsitzende. Sie ist häufig überfordert und kennt unser Regelwerk selbst nicht allzu gut. Das zweite Vorstandstier ist Pat, ein Pandabär, der jedes Problem von so vielen Seiten betrachtet, dass er am Ende selbst nicht mehr weiß, worum es eigentlich gegangen war. Beide sind eher gutmütig, aber Maxi neigt dazu, manchmal aus Überforderung sehr streng zu werden.
Schließlich verkündete Maxi, wer den Platz von Klecks einnehmen würde: Mathilda. Sagte mir erst mal nichts, als sie jedoch nach vorne aufs Podium trat, um sich feiern zu lassen, machte es klick. Nicht gut, bei Mathilda, einer magischen Hyäne, war ich mir nie sicher gewesen, ob sie wirklich zu den Guten gehörte. Ihre ältere Schwester Rosalie war noch unangenehmer. Ganz reizende Familie. Naja, meine war letztlich auch nicht besser.
Nachdem der ganz Vereidigungskrempel abgeschlossen war, rief Maxi mich vor das Podium. Snowflake setzte sich neben mich, legte mir die Pfote auf die Schulter und flüsterte: „Du schaffst das. Deine Rede ist gut.“
Er hatte sie während der Wahl gelesen, um mir notfalls zur Seite springen zu können.
Angelo verlas also die Anklagepunkte, schmückte das Ganze kräftig aus und ich konnte seine Freude dabei spüren. Der Mistkerl forderte in der Tat meine Verbannung. Sollte ich je Zweifel gehabt haben, ob es richtig war, keinen Kontakt zu ihm zu pflegen, waren diese nun endgültig weggefegt. Endlich war er fertig und Maxi forderte mich auf, Stellung zu beziehen.
Letztlich hatte ich meine gesamte Verteidigung auf einem zentralen Punkt aufgebaut: die spezielle Situation von komplex traumatisierten Menschen und Menschen mit einer DIS. Alles, was ich getan hatte, hatte ich getan, um Anna & den anderen ihr Leben wenigstens etwas leichter zu machen. Das, was Menschen mit schweren Traumafolgen bräuchten, bekommen sie in aller Regel in eurer Gesellschaft nicht – schnelle und unbürokratische Unterstützung. Stattdessen müssen sie tagtäglich kämpfen, kämpfen um Therapien, Alltagsunterstützung, mit Ämtern und medizinischem Personal, darum sich den Lebensunterhalt zu finanzieren, zusätzlich zu dem, was sie sowieso durch ihre Vergangenheit tragen müssen. Die Folgen der Gewalt, die ihnen widerfuhr, bleiben ein Leben lang. Damit zu leben bedeutet harte Arbeit. Aber das wird nicht gesehen, oft werden ihnen noch Steine in den Weg gelegt, Diagnosen und Traumata ignoriert oder gar verleugnet. Angst vor Ämtern, Arztpersonen etc. haben doch viele? Mag sein, aber nicht in dem tiefgreifenden Ausmaß. Zu oft hatte ich mich nachts an völlig verzweifelte, getriggerte Innenpersonen gekuschelt, die nur sterben wollten, weil irgendein*e Sachbearbeiter*in mal wieder Mist gebaut, Ärzt*innen sich unsensibel und übergriffig verhalten hatten o.ä. Zu oft war ich dabei gewesen, wenn Anna vor Erschöpfung zusammenbrach. Und da habe ich hin und wieder Regeln gebrochen, ja, und eingegriffen. Hier einen falschen Bescheid mit Hilfe der Magischen Schreibfeder richtig gezaubert, da eine Physioverordnung „ausgestellt“, heimlich den Abwasch erledigt, mein magisches Gehör eingesetzt und so Annas Gegenüber belauscht, um ihr Tipps für ihre Argumentation geben zu können.
Selbst mit diesen kleinen Hilfen blieb das Leben für Anna & die anderen schwer genug. Es bräuchte so dringend mehr Sensibilität für komplex traumatisierte Menschen in eurer Welt.
All das setzte ich dem Vorstand (und Angelo) auseinander, in der Hoffnung, dass sie verstehen würden, was so viele Menschen sich weigern zu sehen, verstehen und anzuerkennen.
Nachdem ich geendet hatte, ergriff Snowflake das Wort und erinnerte den Rat an vergangene Heldentaten meinerseits, – Leumundszeuge, heißt das bei euch, glaube ich – während Angelo mich mit Blicken erdolchte. Im Anschluss zogen sich Maxi, Pat und Mathilda zur Beratung zurück. Wie ich Pat kannte, würde das Stunden dauern. Snowflake versuchte derweil mich dadurch zu beruhigen, dass er mich mit seiner riesigen Zunge ausgiebig putzte. Irgendwann half das und ich schlummerte weg. Ich denke, der Gute hat ein bisschen Magie eingesetzt.
Er weckte mich erst, als der Vorstand und Angelo das Podium wieder betraten. Maxi ergriff das Wort. Zunächst verstand ich rein gar nichts; so wie Snowflake seine körperlichen Kräfte mir gegenüber falsch einschätzte, hatte er die beruhigende Magie nicht an meine geringe Körpergröße angepasst und sie etwas überdosiert. Ich bin nun mal sehr zierlich. Und war jetzt ziemlich benommen. Ich begriff es erst, als Snowflake zu jubeln begann:
„Du hast gewonnen, du bist frei! 2:1, Merlin, 2:1 für dich.“
Er wirbelte mich herum. Ich hätte vor Erleichterung weinen können, ich würde nicht verbannt werden, ich hatte den Vorstand zu zwei Dritteln überzeugt! Sie waren meiner Argumentation gefolgt, dass es für komplex traumatisierte Menschen andere Bedingungen brauchte. Als mich Snowflake endlich wieder zu Boden gelassen hatte, sah ich zum Podest. Angelo war bereits verschwunden, klar, Niederlagen erträgt der Kerl einfach nicht, Maxi und Pat winkten mir freundlich zu und … Mathilda, das neue Vorstandstier, warf mir einen Blick zu, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Oha, das war eiskalter Hass. Damit war also klar, wer im Vorstand für meine Verbannung gewesen war. Nachdem mir Maxi noch erklärt hatte, dass ich von nun an in Anbetracht von Annas besonderer Situation offiziell die Erlaubnis hätte, Anna & den anderen jederzeit nach meiner Einschätzung zu helfen, wenn das Ganze im bisherigen Rahmen blieb, verabschiedete ich mich relativ schnell. Ich wollte nur zurück zu Anna. Ich sprang also erneut durch Raum und Zeit, landete fast perfekt in Annas Bett und kuschelte mich an sie. Ich war da, wo ich hingehörte: zu Hause.
Nun, ich hoffe, die Geschichte hat euch gefallen. Gern könnt ihr mir einen Kommentar hier oder auf meinen Social Media Accounts hinterlassen. Wir lesen uns. Bis bald.
Miau, es grüßt euch herzlich euer Merlin.
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Theo @ 1Pokemoncenter (Donnerstag, 16 Februar 2023 17:48)
Ganz ganz viele liebe Grüße an Merlin, Anna und Co. Macht weiter so.mau mau miau!
Pjs (Sonntag, 26 Februar 2023 22:35)
Miau Merlin
bin beeindruckt wie du zwischen den Welten hin und her swichst
Gut, dass du nach all der Aufregung im Zauberwald wieder bei Anna angekommen bist: Katzenkuscheln ist so magisch �⬛
Noch ein Merlin� (Sonntag, 12 März 2023 13:13)
Toll, einfach toll�
Durch Raum und Zeit ... mein Dosenöffner - ist übrigens auch ein Plüschiger� - und ich beneiden dich�
@energiepirat (Mittwoch, 29 März 2023)
Großartig, Mir hat der Kater, der zu mir kam, für ein paar Jahre die gleiche Liebe entgegengebracht. Wie schön.
Hartmut (Sonntag, 25 August 2024 19:48)
Also, dass war wieder eine tolle Geschichte. Ich frag mich nur darfst du uns das eigentlich verraten mit dem Passwort und wo die uralte Eiche ist das Elchili und Elchi es raus gefunden haben, ist klar die haben ja auch den Brief, aber darfst du uns das auch erzählen? Naja, das musst du mit dem Vorstand selber klären. Mich würde noch interessieren, ob Sally Ärger bekommen hat, weil sie ja noch in der Ausbildung war. Dein Vater (ist ja schon wie Darth Vader und Luke Skywalker) war dann doch auf deinerseite.
Mein Vorschlag wäre noch gewesen aus diesem Teil der Geschichte, zwei Geschichten zu machen, die eine Geschichte mit Elchili und Elchi und die zweite Geschichte über die Anklage.
Danke auf zur nächsten.