
Miau und hallo, meine zauberhaften Leser*innen,
was Anna hervorragend kann, wie viele der DIS-/pDIS-Systeme bzw. Menschen mit einer komplexen Traumafolgestörung, die ich kenne, ist Funktionieren. Funktionieren um jeden Preis. Auch wenn die Welt innen und außen zusammenbricht – Anna funktioniert.
Ein wenig werden das auch nicht-traumatisierte Menschen kennen. Dass der Infekt, den eins sich eingefangen hat, erst so richtig am Wochenende oder im Urlaub ausbricht, weil es unter der Woche viel zu viel zu tun gab und eins einfach funktioniert hat, ist so ein allseits bekanntes Phänomen. Oder eins bemerkt erst nach Feierabend, wie groß die Erschöpfung ist und dass es keine gute Idee war, ausgerechnet an diesem Tag auch noch Überstunden zu machen.
Klingt vertraut, oder?
Tja, nun, bei dem Thema Funktionieren verhält es sich jedoch genau wie mit Dissoziationen; bei schwer Traumatisierten spielt sich das Phänomen auf einem anderen Level ab, auch wenn es alle irgendwie kennen. Sogenannte Alltagsdissoziationen hat schon fast jede*r erlebt: Ihr lauft einen bekannten Weg wie in Trance und wisst hinterher nicht mehr, wie ihr von A nach B gekommen seid.
Tiefgreifende strukturelle Dissoziation wie bei DIS/pDIS ist dagegen eine ganz andere Hausnummer. Und so verhält sich das auch beim Funktionieren; wir bewegen uns quasi auf zwei unterschiedlichen Ebenen mit unterschiedlichem Schweregrad.
Wir Katzen ticken da ja grundsätzlich anders als ihr Menschen. Wenn wir müde sind, schlafen wir. Wenn wir hungrig sind, essen wir. Wenn wir gestresst sind, putzen wir uns oder spielen ein bisschen, jagen etwas, zerfetzen euer Sofa mit den Krallen oder ziehen wir uns in ein ruhiges Eckchen zurück. Ich bevorzuge in solchen Fällen die Kammer in Annas Wohnung (=> 14. Verflixte Warterei).
Sprich: Wir Katzen funktionieren in aller Regel nicht um jeden Preis, sondern wissen gut um unsere Bedürfnisse und nehmen uns, was wir brauchen. Ihr könntet eine Menge von uns Samtpfoten lernen.
In der Trilogie „Eine unheilvolle Spur“ bekam ich allerdings eine Ahnung davon, wie das ist, sich Pausen oder gar das nötige Ausweinen zu verwehren und weiterzumachen. Ja, miau, manchmal ist es wichtig, den Gefühlen nachzugeben und „zusammenzuklappen“. Auch wenn das jetzt seltsam klingt. Ich hätte es im Januar 2025 bei meinem letzten Abenteuer auf der Magischen Welt sehr gebraucht, meine Ängste und meine Wut herauszuweinen, mich zu verkriechen und zu sammeln, um neue Kraft zu tanken. Doch ich habe es mir nicht erlaubt; ich war wie auf Autopilot einfach am Funktionieren.
So murmelte ich wie Anna immer wieder wie ein Mantra, wie eine Beschwörungsformel „Nicht jetzt“ vor mich hin, wenn ich merkte, dass ich kurz davor war, die Anspannung, die Angst, die Sorgen zu stark zu spüren, denn für Spring und Penny musste ich durchhalten, wachsam sein, bereit sein.
Anna benutzt, wie ich damals bereits erwähnte, diesen Satz in großen Krisen, die von außen ausgelöst werden, wenn sie erst noch ganz viel regeln muss, um den innen aufziehenden Tsunami noch ein wenig abzuwehren.
Praktisch, mag eins denken. Wie gut, dass Anna das kann. Nun jaaa. Klar ist manches daran nützlich. Aber: Dieser Funktionsmodus ist ein Traumamodus, ein Überlebensmodus. Entstanden in einer Zeit, in der es darum ging, zu überleben – im wortwörtlichen Sinne. In einer Zeit, in der jeder Fehler, jede Unachtsamkeit lebensgefährlich war. In einer Zeit, in der es darum ging, dass niemensch im Außen merkt, dass etwas nicht stimmt, weil die Folgen unabsehbar gewesen wären.
Und – anders als ich, der „nur“ 36 Stunden am Durchhalten war – können Überlebende schwerer Gewalt in der Kindheit Wochen, Monate oder sogar Jahre in diesem Modus feststecken. Was das allein für Folgen für den Körper hat …!
Trotzdem habe ich im Zusammenleben mit Anna immer wieder erlebt, wie toll dieser Funktionsmodus im Außen gefunden wird, auch von Fachkräften und dass Anna dafür sogar gelobt und bestärkt wird:
NOPE.
Das Gegenteil wird gebraucht. Die allermeisten Schwersttraumatisierten brauchen Hilfe und Unterstützung, um eben nicht mehr um jeden Preis zu funktionieren, sondern sich Pausen, Auszeiten, Zeiten für Himmelblaues (das Wort von Annas Kleinen für Schönes, Entspannendes etc.) und zum Fühlen und Nachspüren, für Selfcare zu nehmen (siehe auch Ein fast perfekter Sommertag).
Wie oft Anna den Satz „Sie schaffen das. Sie sind doch so stark“ gehört hat, kann ich schon gar nicht mehr zählen.
Aber um jeden Preis rund um die Uhr zu funktionieren ist nicht Stärke, sondern eine Traumareaktion.
Wäre ich ein sehr unfreundlicher Zauberkater, würde ich sagen: „Leute, das ist gönnerhaft und überheblich und ignorant und nicht nur vorbei am Thema, sondern im schlimmsten Fall eine Retraumatisierung.“
Aber ich bin ja höflich – und so sage ich mal: Eine solche Reaktion im Außen ist der Situation nicht angemessen und eine Fehleinschätzung.
Ja, ich bin ein bisschen dolle wütend zurzeit, weil Anna das in den letzten Monaten leider wieder mehrmals gehört hat.
Was schwersttraumatisierte Menschen „geschafft“ und überlebt haben, ist für die meisten Menschen unvorstellbar.
„Aber irgendwann is auch mal gut mit SCHAFFEN“, wie Ricky es einmal sehr treffend formulierte und sie hat recht damit.
Daher möchte ich noch einmal wiederholen, was ich schon in der Anmerkung No-Gos geschrieben habe: Bezeichnet traumatisierte Menschen nicht als Held*innen, wenn sie um jeden Preis funktionieren, wenn sie sich an suboptimale oder gar eigentlich nicht tragbare Umstände anpassen o.Ä. Das haben sie zwangsweise sehr früh gelernt, um zu überleben.
Und macht bitte nicht einen weiteren Standard-Fehler: Nur weil ein System hochfunktional ist, heißt es nicht, dass es besser mit den Traumata umgehen kann oder weniger darunter leidet, ihr seht es nur nicht.
Ein weiterer Grund, warum ich derzeit mehr als nur ein wenig aufgebracht bin, wenn es um dieses Thema geht, ist die Tatsache, dass die in der Regel sehr unguten Folgen, die dieser Modus nach sich zieht, nur allzu oft und gern übersehen werden:
Insbesondere Hosts laufen Gefahr, sich im Funktionsmodus zu verlieren, bei Anna sind es sogar mehrere Anteile. Wenn eins in diesem Modus ist, kann es sein, dass eins gar nichts mehr spürt: keine Müdigkeit, keine Erschöpfung, keinen Hunger oder Durst, keine Schmerzen, keine Gefühle. Das war überlebensnotwendig. Früher. All das sollte, durfte damals nicht gespürt werden.
Heute ist das problematisch, denn in diesem Modus geht Anna oder ein anderer Anteil ohne Gnade über die eigenen Grenzen und die des Systems. Und das rächt sich. Damit ist ein Zusammenbruch größerer Ausmaße vorprogrammiert, in dem dann unter Umständen wochenlang gar nichts mehr geht.
Doch noch ein Aspekt macht mich dabei immer wieder richtig betroffen: Einmal drin in diesem Modus, besteht die Gefahr, dass Anna es selbst nicht bemerkt, dass sie nur noch funktioniert. Sie kümmert dann sich nicht um sich und die anderen und denkt oft sogar, dass es doch eigentlich ganz gut läuft. Bis es zu spät ist. Es ist ein schlimmer Moment, jedes Mal wieder, in dem sie feststellt, dass sie nur noch Modus ist und den Kontakt nach innen verloren hat. Es ist meine Aufgabe, ihr dann da herauszuhelfen oder eben die von Fachkräften, statt diesen Zustand auch noch zu unterstützen, zumal in diesem Modus die Gefahr von Nicht-Mitschneiden weiterer Verletzungen und Bestätigung alter Glaubenssätze besteht, bis eins wieder raus ist aus dem Modus oder andere Anteile es schaffen, sich zu Wort melden.
Ja, für mich beinhaltet Funktionsmodus mehr, als in Krisen von außen Listen abzuarbeiten, zu organisieren, den Alltag und Termine durchzuziehen, ohne zu spüren, was innen gebraucht wird, sich selbst nicht mehr zu spüren und frühestens zur Ruhe kommen zu können, wenn alles erledigt ist. Es besteht nämlich selbst in (körperlich) grenzüberschreitenden Situationen die Gefahr, dass eine traumatisierte Person weiter funktioniert, ist sie erst einmal in diesem Modus. Grenzen können nicht oder noch weniger als sonst gesetzt werden, weil wie auf Autopilot die Anforderungen von außen erfüllt werden, auch dann wenn das Gegenüber Täter*innenverhalten an den Tag legt. Natürlich spielen weitere Mechanismen, Ängste, Traumareaktionen bei dem Nicht-Setzen-Können von Grenzen eine große Rolle, klar, miau. Aber ich habe oft erlebt, wie anfällig Anna oder andere Hosts dafür sind – wenn die Verbindung zu innen durch das permanente Funktionieren gekappt ist –, Grenzüberschreitungen hinzunehmen oder erst mal gar nicht zu bemerken, weil alles darauf ausgerichtet ist, einen Termin o.Ä. durchzuziehen und die Anforderungen des Außen zu erfüllen.
Insofern gehört für mich „people pleasing“ (sehr grob gesagt, der Versuch, es allen recht zu machen, nur darum zu kreisen, wie eins dafür sorgen kann, dass andere zufrieden sind; bis hin zur Unterwerfung unter die Meinungen und Gefühle des Gegenübers) zumindest ein Stück weit auch zum Funktionsmodus. Keine Ahnung, was die Literatur dazu sagt, miau, ich schreibe hier ja nur als kleiner, magischer Kater über das, was ich so beobachte und erlebe. In jedem Fall sind beides jedoch Überlebensmechanismen, in denen eins selbst und die eigenen Bedürfnisse nicht mehr vorkommen. Und zumindest Anna läuft Gefahr, da reinzurutschen, je tiefer sie im reinen Funktionieren steckt.
Natürlich hat das Funktionieren viel mit Vermeidung und Verdrängung zu tun. Klar, miau. Im Funktionieren lässt sich so gut wie alles wegschieben: die Traumatisierungen, Erinnerungen und Gefühle, ungute Lebensumstände, die anderen Innenpersonen, die Tatsache, dass es eins schlecht geht. Und manchmal braucht es diese Art von Schutz. Niemensch hat etwas davon, wenn Traumainhalte in Phasen von weniger oder entspannender Aktivität unkontrolliert hochbrechen. Langfristig ist es aber keine gute Strategie.
In all den Jahren, die ich Anna inzwischen begleite, ist mir aber auch die folgende Situation untergekommen: Fachkräfte hören die Diagnose und gehen fest davon aus, dass DIS-Personen eher unfähig sind, irgendwas auf die Kette zu kriegen, und sind dann „total überrascht“, dass das nicht der Fall ist. Das kann, neben mangelndem Fachwissen, auch an dem Phänomen der selektiven Funktionalität liegen. Anna ist aus dem Stehgreif früh morgens beim ersten Kaffee im Stande, einen Antrag hervorragend zu formulieren, kennt die entsprechenden Paragrafen etc. Im Zweifel bekommt sie auch noch ein Telefonat mit den zuständigen Stellen hin. Doch im Versorgen von sich selbst und den anderen Anteilen braucht sie Hilfe. Das kann Lizzy besser, die dazu allerdings erst mal nach vorne durchkommen müsste – was aber nicht geht, wenn Anna dann einfach weiter macht – und nach dem Antrag noch mal eben die Bude putzt, drei Telefonate macht und … und … und. Ich hoffe, ihr versteht, was ich meine.
Tja, miau, da stellt sich die Frage, wie da rauskommen, nicht wahr?
Das ist nicht so einfach. Der Funktionsmodus ist tief verankert, hat er doch einst das Überleben gesichert. So existiert innen der Glaube, dass er auch heute rettend sein muss. Ich persönlich bin der Ansicht, dass es da therapeutische Hilfe braucht, um aus dieser ewigen Funktioniererei und dem Über-eigene-Grenzen-Gehen herauszukommen. Herauszufinden, was der Grund ist, der dahintersteht, und daran zu arbeiten, sich die Erlaubnis geben zu dürfen, Pausen zu machen, sollte meines Erachtens gut begleitet werden. Sonst kann es schnell überfordern oder andere ungute Mechanismen oder gar Flashbacks auslösen.
Ich finde es auch wichtig, genau zu schauen, wie bewusste Pausen aussehen können – das muss ja tatsächlich nicht auf der Couch liegen sein, wenn Ruhe viel zu schwer auszuhalten ist. Es kann auch ein langer Waldspaziergang sein oder zwei Minuten bewusstes Atmen auf dem Balkon. Und es braucht echt Übung darin und genaues Hinschauen und Spüren, was wann wie klappt oder nicht – und warum (nicht). Anna ist inzwischen deutlich weniger dabei, einfach nur zu funktionieren. Die letzten Wochen allerdings ist es wieder richtig schlimm, ausgelöst durch Instabilität im Außen. Ich hoffe, dass sie das bald wieder besser hinbekommt. Wir arbeiten dran. Miau.
So, für heute setze ich einen Punkt. Nein, meine Zauberhaften, das ist keine Geschichte, wie ihr sie sonst von mir gewöhnt seid. Ich weiß. Aber es ist ein wichtiges Thema, was für Anna, aber auch für mich mal wieder brandaktuell war/ist. Von daher musste ich das mal loswerden.
Aber bald werde ich euch von einem neuen Abenteuer auf der Magischen Welt berichten, versprochen. Es wird uns alle gemeinsam erneut auf die Himmelsinseln verschlagen. Bis bald. Wir lesen uns.
Wie immer könnt ihr mir gern einen Kommentar hier auf dem Blog oder auf meinen Social Media Accounts oder über das Kontaktformular hinterlassen.
Es grüßt euch herzlich euer Merlin.
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Ginny (Sonntag, 04 Mai 2025 07:31)
Gut auf den Punkt gebracht, du lieber Kater.
Hartmut (Sonntag, 04 Mai 2025 10:04)
Lieber Merlin,
ich kann Dir nur danken dafür, wie offen, klar und deutlich dieser Bericht von Dir geschrieben wurde. Und ich muss ehrlich sagen: Ich bin jetzt noch ein bisschen mehr verwirrt. Oder nein, das ist falsch. Ich weiß einfach nicht, wie ich bestimmte Dinge ausdrücken soll, wenn ich einer oder einem aus dem System schreibe.
Wenn ich mir anschaue, dass ich vor etwas mehr als anderthalb Jahren das erste Mal mit DIS-Systemen in Berührung gekommen bin und in dieser Zeit schon eine ganze Menge dazugelernt habe und andere, die ich im privaten Bereich kenne darüber berichtete habe, bin ich jetzt natürlich wieder etwas verunsichert darüber, was ich bestimmten Innenpersonen schreibe. Ich kann nicht einfach nur etwas von einer Person lesen, obwohl ich gerne etwas schreiben und mitteilen möchte, wie schön oder wie traurig ich etwas finde. In den letzten Monaten hatte ich immer wieder Schwierigkeiten, mir zu überlegen, wie ich etwas schreiben soll, genau aus dieser Gefahr heraus.
Und wenn ich das hier lese, weiß ich zurzeit einfach nicht, was ich machen soll. Es ist kompliziert. Ich kann es mir etwas bildlich ein bisschen vorstellen, aber nicht direkt fühlen, höchstens als ein Puzzle, das ich mir zusammenstellen muss.
Wenn ich deinen Text lese, wird immer deutlicher, wie schwierig es für euch ist, für Anna, die Innenpersonen, damit klarzukommen. Und wenn ich dann vielleicht noch das falsche Wort oder eine ungünstige Satzkombination verwende, habe ich Angst, etwas auszulösen. Das macht es schwer.
Wie klar und deutlich du das hier formuliert hast, zeigt aber auch, wie schwierig es für andere ist: Wie soll man sich unterhalten? Wie kann man jemanden aufbauen oder helfen (Hosts), wenn es ihm oder ihr gerade schlecht geht? Oder wie kann man sich mitfreuen, wenn sich eine Innenperson gerade so über Fortschritte freut?
Es ist schwierig, den richtigen Weg oder überhaupt einen Ansatz zu finden. Und ich hoffe sehr, dass ich in dem Rahmen nicht etwas Falsches auslöse, so wie du es manchmal beschreibst, bei bestimmten Situationen.
Ich danke Dir, dass Du von Lizzy die Bilder zeigen durftest. Die sind wirklich schön. Ich habe sie als Erstes gesehen, bevor ich dann auf den Artikel gestoßen bin, den Du hier eingestellt hast.
Trotz alledem lese ich Deine Geschichten sehr gerne. Auch dieses Thema, so wie Du es geschrieben hast, ist unheimlich wichtig – für viele andere. Denn nur so kann ich ein Stück weit mehr dazulernen.
Ich danke Dir, und wünsche Dir, Anna, Spring und allen anderen noch viele schöne Tage.