Begegnung im Hausflur

Foto. Eine schwarze Katze schaut durch das Geländer einer weißen Holztreppe nach unten.
Freies Foto von Pixabay.

Miau und hallo, meine zauberhaften Leser*innen,

 

neulich Nacht hatte ich endlich mal wieder etwas Zeit, meine Gedanken zu sortieren und Tagebuch zu schreiben. Das tue ich regelmäßgig, genau wie Anna. Kann wirklich sehr hilfreich sein. Einiges, was mir da so durch den Kopf ging, während ich in den nächtlichen Himmel sah, möchte ich gern mit euch teilen. Ich stelle nämlich immer wieder fest, dass ein Vorurteil über Menschen mit DIS besonders häufig verbreitet ist. Und ich meine jetzt nicht, dass sie alle angeblich einen Axtmörder*innen-Anteil haben, wie das in Büchern und Filmen so gern dargestellt wird. Das ist selbstverständlich auch totaler Quark.

 

Nein, ich meine etwas anderes. Doch zunächst möchte ich euch zunächst die folgende Episode erzählen, die sich vor einigen Wochen bei uns im Hausflur ereignete:

 

Anna und ich waren eine kleine Runde spazieren gewesen. An diesen Anblick haben sich sowohl die Leute im Haus als auch im Kiez gewöhnt. Es war für Anna und die anderen in der ersten Zeit sehr anstrengend, dauernd auf mich angesprochen zu werden. Ich bin in dieser Gegend bekannt wie ein bunter Hund, da die Leute immer sehr fasziniert davon sind, dass ich „einfach so“ neben Anna laufe und nicht abhaue, obwohl sie mich ja „nicht mal an einer Leine“ hat. Leine – so weit kommt es noch.

Zum Glück sind wir zwischendrin mal gemeinsam umgezogen, also Anna und ich, sodass sich zumindest im Moment die Leute noch nicht wundern, dass ich noch lebe, sondern nur so etwas sagen wie „Für sein Alter ist der Kater wirklich noch fit“. Irgendwann werden wir da ein Problem bekommen, wohnen wir doch auch hier schon über zehn Jahre, Anna kann ja den Menschen schlecht erzählen, dass es sich bei mir um einen etwa 200 Jahre alten magischen Kater handelt. Jedenfalls nicht ohne sich und mich in Schwierigkeiten zu bringen.

 

Doch ich schweife ab. Wo war ich? Ach ja, die Situation mit der Nachbarin aus dem zweiten Stock. Sabine heißt sie. Anna war ihr auf halber Treppe zwischen Erdgeschoss und erstem Stock direkt in die Arme gelaufen; wir wollten rauf, sie runter. Ansonsten bemüht sich Anna nach Kräften, ihr aus dem Weg zu gehen, da so ein kurzes Schwätzchen mit ihr mal locker eine Viertelstunde dauern kann und Sabine ohne Punkt und Komma redet. Und so viel Small Talk oder eher Monolog erträgt hier keins wirklich. Doch im Treppenhaus – keine Chance, auszuweichen. Sabine stand auf dem Treppenabsatz, Anna und ich noch auf der Treppe selbst, drei, vier Stufen unter ihr.

 

Nun, ich war müde nach dem Spaziergang und Sabine erzählt in der Regel ziemlich langweiliges Zeug, daher hörte ich die ersten Minuten, neben Anna hockend, nicht so genau zu. Ich wurde erst aufmerksam, als die Worte „Minnie“ und „vom Auto angefahren“ fielen. Oh.

 

Minnie ist die Katze aus dem Parterre im Vorderhaus, ausgesprochen lieb. Nein, sie ist nicht magisch. Eine gewöhnliche getigerte Hauskatze, die ein unbeschwertes Leben bei ihren Besitzer*innen führt und hin und wieder ausbüchst und durch die Gegend streunt. Wenn wir sie treffen, bekommt sie von Anna immer ein paar Streicheleinheiten und Minnie und ich beschnuppern uns freundlich und wechseln das eine oder andere Wort in Katzensprache darüber, was gerade so in der Gegend los ist.

 

„… hat nur knapp überlebt“, hörte ich Sabine nun sagen und warf rasch einen besorgten Blick auf Anna, sah, wie ihre Hand Richtung Kopf wanderte … Okeee! Einer der Momente, in denen es nötig ist, einzugreifen; das tue ich immer, wenn ich bemerke, dass sich bei Anna & Co ein Switch (also ein Wechsel zwischen Anteilen) anbahnt oder schon passiert ist, wenn wir nicht zu Hause sind. Und jetzt war eindeutig eine innere Kleine, die 4-jährige Finja, nach vorne gerutscht. Finja ist unter anderem daran gut zu erkennen, dass sie an den Haaren dreht, und die Art und Weise, wie sich die Hand nach oben bewegte wurde, zeigte mir deutlich, dass es nicht mehr Anna war, die vor Sabine stand, sondern die kleine Finja. Und in ihren Augen glitzerten bereits erste Tränen. Die Kleinen lieben Minnie – und die Vorstellung, dass sie angefahren worden war, war für die Vierjährige selbstverständlich schwer zu ertragen.

 

Finja bzw. Anna laut anzusprechen hätte Sabine zwar definitiv abgelenkt, aber die Tatsache, dass ich ein magischer Kater bin, der u.a. die menschliche Sprache beherrscht, behalte ich bei 90% der Menschen dann doch lieber für mich. So kletterte ich zunächst einmal eine Stufe höher und angelte von da aus nach Sabines Rockzipfel. Recht träge, zugegeben, aber normalerweise reicht sowas schon, um die Aufmerksamkeit von Anna bzw. dem anderen Anteil auf mich umzulenken. Doch Sabine schob mich nur leicht mit dem Fuß weg, während sie weiter mit Finja sprach, als habe sie Anna vor sich. Finja schaute Sabine derweil mit großen Augen entsetzt an und drehte stärker an den Haaren.

 

Hmm. Okeee. Also etwas massiver. Ich zupfte und zerrte heftiger an Sabines Rock. Als diese mich weiterhin ignorierte, stellte ich mich an ihr auf und miaute dabei. Allerdings recht leise, ich wollte Finja nicht erschrecken.

 

Doch Sabine baute in ihren Redefluss, weiterhin auf Anna/Finja konzentriert, nur ein: „Kater ich hab keine Leckerli dabei! Und ich kann so eine Bettelei echt nicht ausstehen“ ein, schob mich erneut beiseite und redete weiter über alle verletzten Haustiere, die ihr im Laufe ihres Lebens wohl so begegnet waren. Sie warf nicht einmal einen Blick auf mich. Verflixter Feenstaub. Wenn die Frau einmal am Reden ist, tut sie nichts anderes mehr als genau das.  

 

(Nur fürs Protokoll: Ich bettele nie. Also fast nie.)

 

Ich schob mein Genervtsein über Sabine beiseite, musste ich doch zusehen, dass Anna einen Moment bekam, in dem sie wieder nach vorne konnte, bevor Sabine doch noch bemerkte, dass sie mit einer Vierjährigen sprach. Schließlich gehört es zu meinen Arbeitsaufträgen, mitzuhelfen, dass Switches im Außen nicht auffallen.

Zeit für radikalere Maßnahmen.

 

Und so kletterte ich zunächst wieder ein paar Stufen nach unten, um mehr Schwung zu bekommen und sprang dann von dort aus an Anna/Finja und Sabine vorbei Richtung Fensterbrett – und zwar ausnahmsweise in der Absicht, es definitiv zu verfehlen und mit Karacho danebenzubrettern. Das würde mit Sicherheit Sabines Aufmerksamkeit erregen und sie lang genug von Anna/Finja ablenken.

 

Jo, Pläne und so. Ich stieß mich ab, flog wie ein schwarzer Schatten an den beiden Menschen vorbei – und landete elegant und nahezu perfekt auf dem schmalen Sims vom Hausflurfenster. Mir selbst blieb vor Überraschung der Mund offenstehen.

 

Mein allerbester Sprung oder besser meine beste Landung jemals, ausgerechnet dann, wenn ich es nicht gebrauchen konnte. Dazu noch fast geräuschlos wie eine ganz normale Katze. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich mich aber sowas von gefreut. Doch nicht jetzt.

 

Sabine warf mir lediglich einen kurzen, etwas irritierten Blick zu und redete weiter wie ein Wasserfall auf Anna/Finja ein, die wie hypnotisiert ihren Blick fest auf Sabine gerichtet und meinen Sprung überhaupt nicht wahrgenommen hatte:

 

„Geht ihr jetzt jedenfalls wieder gut. (Sabine meinte wohl Minnie). Ich muss jetzt wirklich los. Zur Apotheke und …“ Sie zählte ihre zu erledigenden Besorgungen auf, schloss mit einem: „Mach’s gut!“ und eilte endlich die Treppe hinunter, Anna bzw. Finja zum Abschied noch kurz die Schulter tätschelnd. Eine sehr unangenehme Angewohnheit dieser Dame, alle Lebewesen, ohne zu fragen, anzutatschen. Grenzen, Leute, Grenzen.

 

Als ich schließlich unten die Tür schlagen hörte, kletterte ich schnell vom Fensterbrett herunter, natürlich ungeschickt wie immer, stupste Finja behutsam an und bat sie, Anna nach vorne zu lassen. Dabei wiederholte ich mehrmals, dass es Minnie wieder gut ging, und versprach ihr, dass wir gleich nach ihr sehen würden. Schließlich schüttelte sich Anna, das macht sie immer, wenn sie wieder nach vorne kommt, und sah mich an.

 

„Nö, Sabine hat’s nicht gesehen“, beantwortete ich die stumme Frage. Anna nickte erleichtert. Dass leider auch der perfekteste aller Sprünge unbemerkt geblieben war, behielt ich in diesem Augenblick noch für mich.

 

Ich denke, ihr ahnt bereits, worauf ich hinauswill? Genau. Es geht in dieser Episode um den Glauben/das Vorurteil vieler Menschen, dass ein Switch im Außen immer ganz krass sichtbar ist. Ja, es gibt DIS-Systeme, bei denen das so ist. Bei den allermeisten verlaufen die Switches allerdings unbemerkt von der Außenwelt, lautet doch die oberste Prämisse, auf gar keinen Fall aufzufallen. Der Unterschied zwischen Anna und Lizzy (=> Zuhause) zum Beispiel ist auf den ersten Blick so fein, dass selbst ich einige Zeit Schwierigkeiten hatte, die beiden auf Anhieb zu unterscheiden. Aber auch die Kinderanteile beherrschen es hier perfekt, nicht aufzufallen, zumindest wenn Anna & Co sich im Außen bewegen. Anna hat mir mal erzählt, wie eine Therapeutin sich vor ewigen Zeiten mit Lia, Annas 7-Jähriger, über genau diese unterhalten hatte, in dem Glauben, Anna vor sich zu haben. Nun, gut. Lia hatte mitgespielt und die Therapeutin rein gar nichts bemerkt. Muss ein sehr seltsames Gespräch gewesen sein. Lia kichert da bis heute drüber. Und wer Anna auf ihren Social Media Accounts folgt, hat im Laufe der Jahre nicht nur mit Anna geschrieben, sondern auch mit Sarah, Lizzy, der 12-Jährigen und noch einigen anderen. Ich vermute, dass euch das nicht aufgefallen ist. Trotzdem bleibt stets die Angst, dass ein Switch in einer absolut unpassenden Situation auffallen könnte.

 

Nach all den Jahren und dank meiner magischen Kräfte spüre ich natürlich sofort, wenn sich ein solcher auch nur anbahnt – und wenn wir uns im Außen bewegen, greife ich dann in aller Regel ein. Doch genau wie in dieser Episode ist das in 99% aller Fälle völlig überflüssig, weil Menschen im Außen einen Switch einfach nicht bemerken. Um einen Wechsel bei Anna & Co mitzubekommen, muss eins sie sehr gut kennen. Doch auch dann ordnen das die Leute i.d.R. lediglich als eine Facette oder Seite von Anna ein, nicht als eine Innenperson.

 

Auch Fachpersonal übersieht übrigens sehr, sehr häufig Wechsel bei DIS-Personen. Und dann heißt es schnell: Die Diagnose DIS könne so nicht gestellt werden, weil ja keine Wechsel sichtbar gewesen wären, und es kommt zu Fehldiagnosen und somit zu unpassenden Hilfen, Therapien etc. Sehr fatal.

 

Dass Switches nicht sichtbar sind bzw. nicht bemerkt werden, heißt nicht, dass es sie nicht gibt. Es brechen halt nur nicht ständig schreiende Kleinkinder mitten auf der Straße oder wütende Teenager im Hausflur heraus. (Auch wenn Ricky, Annas 12-Jährige, Sabine schon manchmal gern an den Kopf knallen würde, dass sie sie nervt, mit ihren endlosen Monologen. Aber es passiert eben nicht.)

 

So, was fehlt hier noch? Ach, ja. Minnie geht es gut. Wie sich herausstellte, hatte Sabine mal wieder ganz stark übertrieben; das Auto hatte noch rechtzeitig gebremst und Minnie zwar einen Schock erlitten und sich bei ihrer panischen Flucht eine Vorderpfote verletzt, aber von Lebensgefahr war das weit entfernt. Bei allem, was eins hier über den Flurfunk hört, ist in aller Regel mindestens die Hälfte nicht wahr. Minnie bekam natürlich trotzdem extra viele Streicheleinheiten von Anna und den Kleinen und ausnahmsweise auch ein paar Leckerli.

 

Und ich? Ich hatte mir vorgenommen, in Zukunft absichtlich daneben springen zu wollen, in der Hoffnung, ich würde dann dort landen, wo ich wirklich hinwill. Klappt leider auch nicht, wie ich feststellen musste. Der perfekte Sprung und die perfekte Landung waren einfach Zufall gewesen. Sehr bedauerlich. Ich muss also weiter mit meinem Sprung-Schwierigkeiten leben. Aber meine Versuche in der Wohnung, das Ziel beim Springen absichtlich zu verfehlen, haben bei Anna und Co immerhin tagelang für Unterhaltung gesorgt. Fragt einfach nicht, wo überall ich dabei wie gelandet bin. Miau.

 

Soweit für heute, meine zauberhaften Leser*innen. Wir lesen uns. Wenn ihr mögt, hinterlasst mir doch hier oder auf meinen Social Media Accounts einen Kommentar.

 

 

Bis bald. Es grüßt euch herzlich euer Merlin. 

Kommentare: 5
  • #5

    Hartmut (Dienstag, 10 September 2024 18:56)

    Hallo Merlin,
    Gratulation zu einem so super grandiosen Sprung! Wer dich nun etwas länger kennt, fragt sich: Hey, könnte das der Anfang einer wunderbaren Sprungathletenkarriere sein? – Wir werden sehen. Ich wäre ja gerne dabei gewesen, als du deine Sprungübungen im Wohnzimmer gemacht hast.
    Ja, so eine Sabine kenne ich auch, aber nicht im Treppenhaus, sondern als Schwägerin. Schon der Name am Telefon sagt alles: jetzt weiß ich wenigstens, was ich die nächste halbe Stunde oder länger zu tun habe.

    Und dann ist da noch der Wechsel und die Maske bei DIS-Systemen. Es ist mir klar, warum das gemacht wird, was ich eigentlich sehr schade finde, aber gut nachvollziehen kann. Aber es hindert auch daran, dass man wenig über die DIS-Systeme erfährt und sie verstehen lernt. Ich habe erst durch Threads darüber erfahren und durch dein behutsames Mitnehmen in den Erklärungen, die du hier zwischendurch gibst. Ich hoffe, dass in Zukunft mehr darüber gesprochen wird.

    Danke, Merlin, und weiter geht's zum nächsten Kapitel. Natürlich viele Grüße an Anna und Co. und auch an Spring.�

  • #4

    Pjs (Sonntag, 22 Oktober 2023 12:46)

    Danke Merlin und Glückwunsch zu dem perfekten Sprung

    . Bei Bedarf komme ich gerne vorbei und stelle ignoranten, nervigen Nacgbarn im Treppenhaus ein imaginäres Beinchen aus der Ferne �

  • #3

    firefly (Mittwoch, 27 September 2023 17:55)

    die erklärkatergeschichten sind toll; hochinformativ und lustig bis spannend. danke, merlin �

  • #2

    Maria (Dienstag, 26 September 2023 20:20)

    Lieber Merlin, genau im aussen wird selten wahrgenommen wenn der Switch erfolgt. Auch meine Erfahrung. Und wenn es manchmal zu seltsameren Eigenheiten eines Anteil kommt, wurde/wird oft fehl interpretiert. Inzwischen kennen sich etliche Anteile untereinander. Das ist hilfreich f.m., denn früher war es manchmal schwierig zu verstehen was da gerade war. Und klar inzwischen gibt es Selbst Akzeptanz dazu. Eine wirklich wichtige Erzählung von dir Merlin. Wünsche dir, Anna, den Kleinen u. Großen Anteilen einen zarten Abend ��⚘ Maria

  • #1

    @energiepirat (Dienstag, 26 September 2023 19:42)

    Ein Treppenhaus passend zum Kater! Mein GIN Ist in der Bad Wörishofener Fußgängerzone auch immer mit mir mitgegangen. Auch tagsüber mit all den Leuten.Er ist sowieso gern mit mir spazieren gegangen. Bis zu 3 Kilometer. Oh je, arme Minnie. Aber zum Glück war es ohne schlimmere Folgen. Ich hoffe, Sie ist zukünftig aufmerksamer. Ich hatte vor langer Zeit eine schwarze Katze mit nach Hause gebracht. Besser gesagt, sie ist von sich aus mitgekommen. Sie wurde leider mit 7 Jahren auch überfahren. Das ist so was von furchtbar. Schlimm. Eine hochinteressante Geschichte. Bei Eich wird's nie langweilig. Danke sehr, lieber Merlin.